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       # taz.de -- Kunstszene in Istanbul: Sie tänzeln eher und smashen nicht
       
       > Drahtseilakt am Bosporus: Unter Erdoğans repressiver Politik ist die
       > jetzige Istanbul-Biennale ziemlich klandestin geraten.
       
   IMG Bild: Hände, umwickelt oder im Spiel? Mariana Vassilevas „Selfmade“ von 2011, zu sehen im Istanbuler Kunsthaus Arter
       
       Zwei ausgestreckte Hände mit gespreizten Fingern aus weißem Gips, um die
       ein goldener Stacheldraht gewickelt ist. „Selfmade“, die Arbeit der
       Künstlerin Mariana Vassileva im Istanbuler Kunstmuseum Arter, stammt schon
       aus dem Jahr 2011, könnte aber kaum symbolischer für die Lage der Künste
       derzeit sein.
       
       „Under Pressure Above Water“, der Titel der kleinen Ausstellung von gerade
       einmal 33 Arbeiten von 15 Künstler:innen, erwähnt die Türkei mit keinem
       Wort. Eher geht es der von der Istanbuler Kuratorin Nilüfer Şaşmazer
       besorgten Schau um den Zustand permanenten Drucks auf der ganzen Welt.
       
       Die umwickelten Hände symbolisieren die eingeschränkte Reichweite der
       Existenz und die Gefahr, sich zu verletzen. So mühelos wie die Finger den
       Stacheldraht wie Wolle aber zu bewegen scheinen, wird die Kleinplastik
       zugleich zum Symbol für die Fähigkeit, die gefährlichen Verhältnisse
       gleichsam um die Finger zu wickeln.
       
       Istanbul gibt in diesem Herbst eines der drastischsten Beispiele für diesen
       Drahtseilakt ab. Kaum ein Tag, an dem nicht Menschen aus heiterem Himmel
       verhaftet, [1][Künstler:innen von Staatsanwälten angeklagt werden].
       Trotzdem geht der Alltag seinen Gang: Ausstellungen und Festivals werden
       eröffnet, die Rooftop-Terrassen der Stadt sind überfüllt.
       
       ## Angeklagt wegen „Obszönität“
       
       Anfang September traf es den Popsänger Mabel Matiz, dann Ayşe Barim, die
       Besitzerin einer PR- und Künstlerinnenagentur. Der offen schwule Sänger
       wurde wegen „Obszönität“ angeklagt, weil er in seinem Song „Perperişan –
       Erschöpft“ die Liebesgeschichte zwischen zwei Männern beschreibt, Barim war
       plötzlich Komplizin der Gezi-Proteste 2013.
       
       Nach einem Konzert im Küçükçiftlik Park wurde die Girlband Manifest wegen
       „unzüchtiger und unkeuscher Handlungen“ sowie „Exhibitionismus“ angeklagt.
       Der Drehbuchautorin Merve Göktem wurde ein Interview über ihre Serie
       „Nackt“ zum Verhängnis: „Unterstützung von Prostitution und Anstiftung zu
       Verbrechen“, befand der Staatsanwalt.
       
       Da grenzt es an ein Wunder, dass die 18. Istanbul-Biennale Ende September
       überhaupt eröffnet werden konnte und immer noch läuft. Zwar ist das 1987
       gegründete Kunstevent eine private Initiative. Finanziert wird sie von der
       Istanbuler Stiftung Kunst und Kultur (IKSV) der Industriellenfamilie
       Eczacıbaşı, der auch das [2][Museum Istanbul Modern an der mondänen
       Galataport-Mall] im Istanbuler Hafen gehört.
       
       Doch ganz ohne staatliche Player geht es auch bei so einem Vorhaben nicht.
       Als im letzten Jahr der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der
       oppositionellen CHP, samt der halben Stadtverwaltung unter dem Vorwand der
       Korruption verhaftet worden war, fehlten der Biennale viele kommunale
       Ansprechpartner.
       
       Im August dieses Jahres folgte İnan Güney, der Bezirkschef von Beyoğlu, wo
       die Biennale stattfindet, zwei Tage vor der Eröffnung wanderte noch Hasan
       Mutlu, der Bezirksbürgermeister von Bayrampaşa, hinter Gitter – als 17.
       Bezirksbürgermeister der Metropole, alle von der CHP.
       
       ## Austrocknung der Opposition
       
       Vielleicht war diese massive Austrocknung des oppositionellen Umfeldes im
       Vorfeld der Grund, dass diese Biennale die unscheinbarste,
       zurückgenommenste Ausgabe der für ihre politische Haltung,
       Experimentierlust und spektakulären Settings bekannten Biennale war. Vorbei
       die Zeiten, als Carolyn Christov-Bakargiev 2015 den Bildhauer Adrián Villar
       Rojas ein surreales Bestiarium aus Fiberglas-Skulpturen am Strand vor der
       Villa auf der Insel Büyükada aufstellen ließ, in der Leo Trotzki einst
       seine Zeit im Exil fristete.
       
       Oder als das kroatische Kuratorinnenkollektiv WHW 2009 die Biennale zum
       Agitprop-Happening umfunktionierte. In der Stadt kündeten kaum Plakate von
       dem Event. Man musste lange suchen, um die acht Spielstätten wie das Zihni
       Han, ein altes Reedereikontor am Hafen, oder die Külah Fabrikası, eine alte
       Eiswaffelfabrik, verborgen hinter einer verschmierten Eisentür im Meer der
       Touristenlokale, im gentrifizierten Hafenviertel Karaköy zu finden. Bloß
       nicht auffallen oder demonstrativ herausfordern, das schien die unerklärte
       Devise der Biennale-Verantwortlichen zu sein.
       
       Das heißt nicht, dass diese Biennale handzahm wäre. Dass Kuratorin
       Christine Thomé die Katze, das Lieblingstier der Istanbuler:innen, zum
       Motto der 18. Ausgabe der Biennale erkoren hatte, zeigte keine Flucht ins
       Kuschelige an, stand vielmehr als Symbol für die Mischung aus Verspieltheit
       und Widerstandsbereitschaft.
       
       Und als die 1964 in Beirut geborene, von den Gewalterfahrungen des Libanon
       geprägte Frau die Schau bei der Eröffnung bewegt, allen Opfern von Krieg
       und Gewaltherrschaft widmete, war klar, dass sie auch das Land meinte, in
       dem sie gerade arbeitete. Dass Thomé die Biennale „Three Legged Cat“
       nannte, war nicht nur ein Hinweis auf die drei Phasen der Biennale, die
       sich erstmals bis zum Jahr 2027 erstreckt, sondern auch ein verstecktes
       Bild für eine Kunst(-szene) mit Handicap.
       
       ## Politisches kommt indirekt daher
       
       Trotz starker Worte zur Eröffnung: Im Gegensatz zu der Ausstellung im
       Museum Arter, in dem Alicja Kwade eine extrem gebogene Holzpalette zu einem
       abstrakten Symbol für die gespannte Existenz unter (politischem) Druck
       präsentiert, kommt das Politische bei Thomé oft indirekt, in Geschichten
       versteckt daher.
       
       Wie bei den scheinbar idyllischen Stickereien, mit denen Jagdeep Raina die
       fatalen Folgen der Industrialisierung der Landwirtschaft in Pakistan
       aufgreift. Oder wie bei Pilar Quinteros. Sie verarbeitet die Idee von
       Widerstand, Erneuerung und dem Verlust kollektiven Gedächtnisses in einer
       Skulptur, die wiederum die Geschichte der Vandalisierung von Muzaffer
       Ertorans Statue „Arbeiter“ von 1973 im Istanbuler Tophane-Park erzählt.
       
       Dass der klandestine Geist des ästhetischen Widerstandes, den Thomé so
       unauffällig wie möglich inszeniert, die Verhältnisse anstoßen, inspirieren,
       verändern könnte, dürfte trotzdem schwerer sein denn je. Spätestens mit der
       Niederschlagung der [3][Gezi-Proteste 2013 schloss sich das Zeitfenster, in
       dem die kritische Kunst] in der Türkei fähig schien, die nationale
       Ikonografie zu unterlaufen und den Wandel zu Demokratie und Multikultur zu
       befördern.
       
       Heute wird sie als Nischenexistenz geduldet, selbst [4][wenn mehr Museen
       und Artspaces denn je am Bosporus existieren.] Von Massenwirkung ist sie in
       der 16-Millionen-Metropole mit knapp 500.000 Besucherinnen pro Ausgabe und
       in einer Gesellschaft, die stattdessen TV-Serien konsumiert wie Turkish
       Delights, weiter entfernt denn je. Der anhaltende Braindrain der
       ästhetischen Intelligenz, die Flucht in den Westen, verstärkt diesen
       Wirkungsverlust der Kunst.
       
       ## Das Defensive dominiert
       
       Thomé versucht es trotzdem. Sie war so wagemutig, Elif Saydams mit bunten
       Ornamenten bedruckten Plastikstreifen zu präsentieren, die das Wechselbad
       aus Inklusion und Exklusion symbolisieren, mit der sexuelle Devianz in der
       Türkei kämpft. Die Antwort kam prompt: Vor wenigen Tagen legte deren hart
       auf Anti-LGTBI+-Kurs segelnder Präsident einen Gesetzentwurf vor, der
       Transmenschen und gleichgeschlechtliche Paare mit Gefängnis bedroht.
       
       Thomés Biennale ist nicht unpolitisch, aber in den meisten der von ihr
       gezeigten Werken dominiert das Defensive, Verklausulierte. Auch wenn sie
       Simone Fattals Skulpturenpaar „Warriors“ in der 1888 eröffneten, 2015 zur
       Ausstellungshalle umgebauten alten griechischen Grundschule in Karaköy
       aufgestellt hat. Die zwei archaischen Tonfiguren der libanesischen
       Bildhauerin ventilieren die Erfahrungen von Widerstand und Resilienz aus
       den Jahren des Bürgerkriegs von 1975 bis 1990.
       
       Wer nach einem Smashing Image für einen Ausweg aus hochverdichteten
       (Unterdrückungs-)Verhältnissen sucht, wird eher in der Arter-Ausstellung
       fündig, die Thomés Motto „self-preservation and futurity“ schlagender auf
       den Punkt bringt als die Biennale. Für seine Fotoarbeit „Diamonds“ ist es
       dem [5][Künstler Nasan Tur] gelungen, einen Stoff zu zerbrechen, der zu den
       härtesten der Welt zählt. Auf dem Druck birst ein Diamant wie eine
       Supernova in Tausende Splitter. Das Symbol für Macht, Reichtum und
       Ausbeutung verwandelt sich im Moment seiner Zerstörung in ein Universum der
       Schönheit.
       
       24 Oct 2025
       
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