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       # taz.de -- Dekolonialisierung von KI: Die Bots sollen indigene Sprachen lernen
       
       > Chile hat ein KI-Sprachmodell entwickelt, das lokale Sprachen und
       > Kulturen berücksichtigt. Doch Big Tech bedroht die technologische
       > Unabhängigkeit.
       
   IMG Bild: Indigene aus Chile bei Versammlung in Bolivien
       
       Wer ChatGPT den Auftrag erteilt, ein realistisches Bild zu erstellen, wie
       ein Mensch Wasser bekommt, erhält häufig Bilder von einem Wasserhahn, zum
       Beispiel in der Küche oder vor dem Haus. Dass dies die Realität auf der
       Welt nur bedingt widerspiegelt, ist den meisten vermutlich gar nicht klar.
       Rund 700 Millionen Menschen auf der Welt haben keinen Zugang zu sauberem
       Trinkwasser und müssen täglich länger als 30 Minuten zu einer Wasserstelle
       laufen. Das Bild, das die künstliche Intelligenz (KI) von der Wirklichkeit
       zeichnet, ist also ein sehr verzerrtes.
       
       Forscher der University of Michigan haben in einer Studie aufgezeigt, dass
       der Alltag nicht westlicher Lebensweisen in KI-Bildgeneratoren
       unterrepräsentiert ist. Gibt man etwa Begriffe wie „Toilettenpapier“,
       „Lichtquelle“ oder „Kühlschrank“ ein, werden vor allem die Standards in
       westlichen Haushalten dargestellt. Dass aber auch Lehmkeller als
       Kühlschränke fungieren können und Grasbüschel als Toilettenpapier, findet
       in den KI-generierten Antworten kaum Anklang.
       
       Der Grund: Es gibt in den Trainingsdaten schlicht viel mehr Abbildungen von
       schicken Bädern und Designerlampen als von Plumpsklos, sodass die
       KI-Modelle, die mit Wahrscheinlichkeiten operieren, davon ausgehen, dass
       dies die (statistische) Norm ist. So wird über automatische
       Feedbackschleifen eine einseitige Sicht auf die Welt gezeigt – und der
       [1][Wohlstand im Westen als Standard definiert].
       
       Schon seit einiger Zeit gibt es daher [2][Kritik an der Westzentrierung von
       KI-Modellen] – von Datenkolonialismus ist gar die Rede. In der Kritik
       stehen nicht nur große Tech-Konzerne, die Arbeitsschritte in den Globalen
       Süden outsourcen, wo Klickarbeiter für ein paar Dollar am Tag Daten labeln,
       sondern auch die Machtstrukturen, die mit dem Export von „Wissenssystemen“
       einhergehen: Sprachmodelle wie ChatGPT werden vor allem mit Quellen aus dem
       Westen wie etwa Wikipedia in englischer Sprache trainiert und sind
       entsprechend limitiert; der Literaturkanon der arabischen oder koreanischen
       Kultur spielt in den Trainingsdaten kaum eine Rolle. Unter dem Stichwort
       „Decolonizing AI“ fordern postkoloniale Technologiekritiker daher, die
       Dominanz der Datenkonzerne zu brechen und KI-Systeme auf eine neue, diverse
       Datengrundlage zu stellen.
       
       ## Genug vom argentischen Akzent
       
       Einen Schritt in diese Richtung macht nun Chile. Dort hat das Chilean
       National Center for Artificial Intelligence (CENIA) ein eigenes
       Sprachmodell entwickelt, das einen regionalen Fokus haben und lokale
       Sprachen und Kulturen stärker nuancieren soll. Das [3][Open-Source-Modell
       Latam-GPT], das mit 50 Milliarden Parametern die Leistungsstärke von GPT-3
       besitzt, wurde mit einem Datensatz von rund 2,6 Millionen Dokumenten
       gefüttert, unter anderem mit Quellen aus Brasilien, Mexiko, Kolumbien und
       Argentinien. Auch kleinere Länder wie Nicaragua waren in den Datensätzen
       vertreten. An der Entwicklung waren insgesamt 33 Institutionen aus
       Südamerika und der Karibik beteiligt.
       
       Latam-GPT soll Lateinamerika technologisch unabhängig von amerikanischen
       Tech-Playern machen – und die kulturelle Identität des Kontinents stärken.
       Schon heute ärgern sich viele Chilenen über den in ihren Ohren furchtbar
       klingenden [4][argentinischen Akzent von ChatGPT], der standardmäßig auf
       ihren Smartphones eingestellt ist. Chiles Präsident Gabriel Boric feierte
       die Entwicklung als Meilenstein: „Die digitale Zukunft muss auch unsere
       Sprache sprechen, mit unseren Stimmen und für unser Volk.“
       
       Ein neues ChatGPT soll aber nicht entstehen. „Wir wollen nicht mit OpenAI,
       DeepSeek oder Google konkurrieren“, erklärte Álvaro Soto, der
       Forschungsdirektor des Cenia, gegenüber dem Magazin Wired. „Wir möchten ein
       Modell, das speziell auf Lateinamerika und die Karibik ausgerichtet ist und
       sich der kulturellen Anforderungen und Herausforderungen bewusst ist, die
       dies mit sich bringt – wie etwa das Verständnis unterschiedlicher Dialekte,
       der Geschichte der Region und einzigartiger kultureller Aspekte.“ So ließe
       sich das Open-Source-Modell etwa für das Bildungssystem in Kolumbien oder
       den Gesundheitssektor in Brasilien adaptieren. Perspektivisch sollen auch
       indigene Sprachen wie Mapuche, Rapanui und Guaraní sowie Dialektvarianten
       aus der Karibik in den KI-Chatbot einprogrammiert werden.
       
       Latam-GPT steht für eine Tendenz zur Regionalisierung von KI. So haben
       Schweizer Forscher kürzlich ein offenes, mehrsprachiges [5][Sprachmodell
       namens Apertus] präsentiert, das unter anderem Schweizerdeutsch und
       Rätoromanisch kann. Die Besonderheit: 40 Prozent der Daten sind nicht
       englischsprachig. Mit Sea-Lion in Südostasien und UlizaLlama in Afrika gibt
       es weitere Open-Source-KIs, die mit regionalen Sprachen trainiert wurden.
       Auch in Indien existiert mittlerweile ein Sprachmodell (BharatGPT), das
       lokale Dialekte beherrscht und Dorflehrer bei der Unterrichtsvorbereitung
       unterstützt. In der früheren britischen Kolonie ist das Thema digitaler
       Kolonialismus ähnlich wie in Lateinamerika politisch brisant.
       
       ## Erst Konquistadore, dann Big Tech
       
       Doch Chiles Vision von technologischer Unabhängigkeit hat einen
       Schönheitsfehler. Das Sprachmodell basiert auf der Architektur von Metas
       Open-Source-Modell Llama 3 – und wird zudem von Amazons Cloud-Sparte AWS
       unterstützt. Ist das nun Entwicklungshilfe? Oder doch der Versuch, Daten
       für die eigene KI abzuzapfen?
       
       [6][„Hyperscaler“ wie Google, Amazon und Meta errichten in Chile ein
       Rechenzentrum nach dem anderen], um ihre datenhungrigen KIs zu trainieren,
       und verbrauchen dabei – neben immensen Strommengen – auch massenhaft
       Wasser, um die heiß laufenden Server zu kühlen. Und das in einer der
       trockensten Gegenden der Welt. Schon seit Jahren gibt es daher Konflikte
       mit der indigenen Bevölkerung um die knappen Wasservorräte; Umweltschützer
       laufen Sturm gegen die Projekte. Im vergangenen Jahr [7][verhängte ein
       chilenisches Gericht einen Baustopp für ein geplantes Google-Rechenzentrum]
       in Cerrillos, nachdem bekannt wurde, dass die Anlage pro Tag 7,6 Millionen
       Liter Trinkwasser verschlingen soll.
       
       Der digitale Kapitalismus befeuert jenen Extraktivismus, der den Kontinent
       in der Vergangenheit immer wieder zum Rohstofflager machte: Erst kamen die
       Konquistadoren und plünderten Edelmetalle. Jetzt kommt Big Tech und beutet
       die Rohstoffe aus. KI hat einen gewaltigen ökologischen Fußabdruck.
       
       Latam-GPT, das an das Rechenzentrum der Universidad de Tarapacá in der
       staubtrockenen Atacama-Wüste angeschlossen ist, braucht am Ende selbst
       Wasser, um aufzuzeigen, dass es auch Wassernutzung jenseits von verchromten
       Wasserhähnen gibt – und ein Bewusstsein für die kostbare Ressource zu
       schaffen.
       
       28 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://news.umich.edu/biases-in-large-image-text-ai-model-favor-wealthier-western-perspectives/
   DIR [2] https://www.researchgate.net/publication/381190416_Generative_AI_and_Digital_Neocolonialism_in_Global_Education_Towards_an_Equitable_Framework
   DIR [3] https://restofworld.org/2025/chatgpt-latin-america-alternative-latamgpt/
   DIR [4] https://www.reddit.com/r/ChatGPT/comments/1jlyvxq/chat_gpt_acento_argentino/?tl=en
   DIR [5] https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2025/09/medienmitteilung-apertus-ein-vollstaendig-offenes-transparentes-und-mehrsprachiges-sprachmodell.html
   DIR [6] https://restofworld.org/2024/data-centers-environmental-issues/
   DIR [7] https://digitalinfranetwork.com/news/water-wars-court-halts-google-data-center-in-chile-amid-climate-controversy/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Adrian Lobe
       
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