# taz.de -- Die Wahrheit: Und nirgends FKK
> Opfer russischer Desinformation: Die Wahrheit zu Besuch bei Polina und
> Sascha im sächsischen Annaberg-Buchholz.
IMG Bild: Wann endlich kommt auch im sehr gesitteten Annaberg-Buchholz der FKK-Wanderweg?
Zwei lange Jahre brauchte es, dann war ihr Entschluss gefasst. Im festen
Vertrauen auf die Wahrheit russischer Berichterstattung entschieden sich
Polina Kolesnikowa und Alexander „Sascha“ Kolesnikow dazu, ihre angestammte
Heimat zu verlassen und auszuwandern. Mit einem Kofferraum voller
Erinnerungen überquerten sie vor fünf Monaten klandestin die russische
Grenze in Richtung Westen. Das Ehepaar glaubte fest daran, bald ganz nach
seinen eigenen Wertevorstellungen leben zu können. Doch aus dem Traum von
einer schönen neuen Welt sind die beiden längst erwacht.
„Der Sascha und ich, wir sind sehr ernüchtert. Und das, obwohl es hier
Wodka gibt!“, seufzt die zierliche Frau, die uns im Regenbogen-Latexkleid
gegenübersitzt. Die deutsche Sprache geht ihr inzwischen leicht über die
Lippen, doch es kostet sie Überwindung, von ihrem Leben hier in Sachsen zu
erzählen.
Wir befinden uns im erzgebirgischen Annaberg-Buchholz. Die Stadt ist
idyllisch und ruhig, Fachwerkhäuser schmiegen sich an den begrünten Hang,
die Rentner gedeihen gut. Polina, 54, und ihr Mann Sascha, 31, bringen
frische Farbe in das kleine Café Sonnenschein hier in ihrer neuen
Heimatstadt. Doch unter den skeptischen Blicken der Einheimischen erblassen
sie dann doch ein wenig.
„Wir haben gehofft, hier ist alles voll schwuler Leute und Fetisch und
so!“, erzählt der pansexuelle Sascha leise und rückt seinen Lederharnisch
zurecht. „Und FKK-Party überall! Im Fernsehen hat man uns gesagt, in Europa
sind alle pervers. Da hatten wir natürlich Lust drauf! Aber Verkehr gibt es
hier wohl nur auf der Straße.“
Aufregend hatten sich die zwei Auswanderer aus Nowomoskowsk das Leben im
Erzgebirge vorgestellt. Nun fühlen sie sich von den russischen Medien
getäuscht. „Die haben uns nur Blödsinn verkauft“, seufzt Polina, die als
polyamore Genderqueer-Aktivistin leider nicht das Deutschland gefunden hat,
vor dem Putins Regime sie warnte. Die Mittfünfzigerin hatte geplant, einen
Tantrakurs für bisexuelle Senioren zu leiten, Sascha wiederum wollte
Crop-Tops für homosexuelle Polizisten entwerfen.
„Nichts als Lügen, nichts mit BDSM!“, klagt der gelernte Schneider. „Alles
langweilig hier, immer nur Ordnung und Grenzen. Man hat uns gesagt, sogar
den Müll muss man korrekt trennen, sonst kommt jemand vom Haus mit der
Peitsche! Habe ich probiert, aber es kam keiner … Da war ich sehr
enttäuscht. Das hätte doch lustig werden können!“
So wie Polina und Sascha geht es in Deutschland noch etwa 2.000 weiteren
russischen Auswanderern, die auf ein europäisches Paradies hofften, das es
so nicht gibt. Nudisten aus Sankt Petersburg irren selbst bei Minusgraden
nackt durch die Straßen Wuppertals. Transidente Russen brechen laut
diverser deutscher Polizeidienststellen immer wieder in Grundschulen ein,
um dort eine Geschlechtsumwandlung zu ergattern.
Polina und Alexander haben sich eingelebt, so gut es in Sachsen eben geht.
Inmitten einer Region, die in westdeutschen Medien als intolerant gilt,
haben sie Nischen gefunden, in denen sie sich wohl und sicher fühlen.
Polina berichtet stolz, dass sie seit Kurzem in der örtlichen
Stadtbibliothek arbeitet. Dort verhilft sie queeren Jugendlichen zu
passender Lektüre und neuem Mut. Sascha konnte noch keine Stelle, dafür
jedoch erste Freunde in der örtlichen Theaterszene finden. Nun denkt er
über eine Karriere als Kostümbildner nach. Weiterhin aber stolpert das
Ehepaar im Alltag über Unstimmigkeiten zwischen deutscher Realität und
russischer Propagandaerzählung.
„Gibt es noch Vanilleeis?“, fragt Sascha und seufzt, als die Bedienung des
Café Sonnenschein nickt. „Dann noch eine Kugel bitte. Also, schlimm! Wissen
Sie, im Fernseher, in Russland, haben die gesagt, hier herrscht Hunger und
alle essen jetzt Eichhörnchen und so! Ich dachte, toll, bald passt die alte
Hose wieder! Aber Pustekuchen! Man hat mich mit Waffeln gefüttert! Und
Kartoffelchips und Kuchen! Jetzt sehe ich aus wie ein Bär vorm
Winterschlaf!“
## Gerade die Jahre gewechselt
Seine Frau stöhnt und fächert sich mit der Speisekarte ein wenig Luft zu.
„Ich habe gerade meine Jahre gewechselt, und weil es immer hieß:
Deutschland ist kalt, Deutschland erfriert, da hatte ich mich richtig drauf
gefreut, endlich mal wieder abzukühlen!“ Auch für Polina findet sich im
überheizten Café noch eine Kugel Eis.
Dann eine harte Frage: Vermissen die beiden etwas an Russland? „Putin!“,
antworten sie einstimmig. Sascha beeilt sich zu ergänzen: „Schlimme
Politik, aber tolle Fotos von ihm! In Deutschland sind Politiker alle so
verklemmt, tragen lange Mäntel wie alte Omas. Aber wenn Putin auf einem
Bären reitet, oberkörperfrei …“
Der 31-Jährige grinst. Die erotischen Propagandafotos des Präsidenten
vermissen beide schon. Stundenlang hätten sie darum in ganz Sachsen
Geschäfte nach einem Kalender mit sinnlichen Aufnahmen von Friedrich Merz
durchsucht. Ohne Erfolg, vielleicht zu ihrem Glück.
Kuchen und Eis neigen sich dem Ende zu und wir fragen die beiden nach ihrer
Zukunft. Ob sie in Deutschland bleiben wollen? „Das steht noch nicht fest“,
antworten sie zögerlich. Nicht alles sei schlecht in Sachsen, auch nicht
hier in Annaberg-Buchholz. Alexander und Polina freuen sich schon auf den
nächsten Christopher Street Day. Und die Regenbogenflaggen über einigen
Bahnhöfen haben sie sehr glücklich gemacht.
„Deutschland kann noch werden“, überlegt Polina, bevor wir dem russischen
Ehepaar zum Abschied viel Glück wünschen. Sie lässt ihren Blick über die
Senioren an den Nachbartischen schweifen. „Und wenn mal keine Party kommt,
dann machen wir vielleicht bei den Briefmarkenfreunden oder im
Klöppelverein mit. Das klingt zwar etwas langweilig – aber wir wollen ja
nicht intolerant sein.“
31 Oct 2025
## AUTOREN
DIR Gesine Schäfer
## TAGS
DIR Satire
DIR Desinformation
DIR Russland
DIR Wladimir Putin
DIR Sachsen
DIR Queer
DIR Sexualität
DIR FKK
DIR Fetisch
## ARTIKEL ZUM THEMA