# taz.de -- Autor Dinić über die Shoah in Serbien: „Ich will ideologische Kontinuitäten aufzeigen“
> Marko Dinić' „Buch der Gesichter“ spielt 1942, als die Nazis Serbien für
> „judenfrei“ erklärten. Ein Roman über Traditionen von Gewalt und
> Verblendung.
IMG Bild: In Ex-Jugoslawien lange eine Sache der Zivilgesellschaft: Erinnerung an die Schoah
taz: Herr Dinić, wie gut ist die Geschichte der JüdInnen und der Schoah in
Serbien und Ex-Jugoslawien aufgearbeitet, über die Sie schreiben?
Marko Dinić: Da ist durchaus noch Luft nach oben. Neben dem Standardwerk
„Serbien ist judenfrei. Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung
in Serbien 1941/42“ des Politologen Walter Manoschek gibt es eine Handvoll
Bücher der jüdischen Gemeinden. Außerdem einige wenige weitere
wissenschaftliche Publikationen.
taz: Haben sich die Gesellschaften Ex-Jugoslawiens ihrer Täterschaft
gestellt?
Dinić: Vieles ist den Gemeinden und der Zivilgesellschaft überlassen
worden. Auf staatlicher Ebene sieht es schwieriger aus. Während es im
sozialistischen Jugoslawien im Zuge des antifaschistischen Kampfes durchaus
eine Aufarbeitung gab, herrschte nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien
das nationale Narrativ vor. Von da an stand eher das Leid der eigenen
Bevölkerungsgruppe – etwa der Serben – im Vordergrund und nicht das der
Jüdinnen und Juden. Inzwischen bemüht sich die serbische Regierung, das
aufzuarbeiten und aus dem alten Messegelände, im Zweiten Weltkrieg das
[1][„Judenlager Semlin“], einen Gedenkort zu machen.
taz: In Ihrem „Buch der Gesichter“ über den Tag, an dem Serbien für
„judenfrei“ erklärt wurde, klingt an, dass der Antisemitismus nicht nur
importiert war.
Dinić: Ja. Man möchte sich gern einreden, der [2][Antisemitismus] sei
importiert, aber tatsächlich hat der Antisemitismus eine viel ältere und
kompliziertere Wanderungsgeschichte. Entscheidend war zum Beispiel die
Verbreitung der antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“, die im
19. Jahrhundert auch auf den Balkan kamen – neben Vorstellungen, die das
Christentum tradiert hatte. Das ist ein Wesensmerkmal der europäischen
Gesellschaften bis zur Schoah: dass sie über antisemitische Narrative ein
klares Feindbild des Juden etablieren, um Machtstrukturen im Inneren zu
stärken oder Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufzuhetzen.
taz: War das ein Grund, den Roman über Isak Ras, den „letzten Juden von
Belgrad“, genau jetzt zu schreiben?
Dinić: Der Grund war, dass ich mich mit der Geschichte dieser Region und
spezifisch dieses Tages, an dem das von Nazi-Deutschland okkupierte Serbien
für „judenfrei“ erklärt wurde, befasste und bemerkte: Dieses Thema war in
der Belletristik noch nicht prominent verhandelt. Begonnen habe ich das
Buch vor gut fünf Jahren. Dass der [3][Überfall der Hamas auf Israel] am 7.
Oktober 2023 es wieder aktuell gemacht hat, liegt an der Wesensart des
Antisemitismus, der letztlich auch zu Gewalt führt.
taz: Im Roman erscheint ein NS-Kollaborateur namens Dinić . Ist die
Namensgleichheit zufällig?
Dinić: Nein – wobei ich mir vorbehalte, nicht zu verraten, was es damit auf
sich hat. Ich beantworte die Frage immer so: Vor langer Zeit habe ich
[4][Thomas Gottschalk] in einem Interview sagen hören: Hätte er in der
NS-Zeit gelebt, hätte er zu den Guten gehört. Ich fand diese Aussage
gefährlich insofern, als er das Wesen totalitärer Systeme nicht verstanden
hat – nämlich, dass sie ihre Bevölkerungen so weit unterdrücken, dass sie
sowohl [5][Täter] als auch Opfer sein können.
taz: Weitere Protagonistin ist die „Haggada“, eine heilige jüdische
Schrift, die ein [6][serbischer Soldat] dann im Bosnienkrieg der
1990er-Jahre „erschießt“, weil er die hebräische Schrift für arabisch, also
muslimisch hält. Wieder hat Ideologie gesiegt.
Dinić: Ja. Wenn es ein übergeordnetes Thema im Buch gibt, dann dieses:
Kontinuitäten staatlicher und gesellschaftlicher Gewalt aufzuzeigen – sowie
ideologische Kontinuitäten gleich welcher Ausrichtung.
25 Oct 2025
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## AUTOREN
DIR Petra Schellen
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