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       # taz.de -- Migration und Bevölkerungspolitik: Schlicht notwendig
       
       > Der Befund ist eindeutig: Europa braucht Migration, sonst kann der Laden
       > bald dichtgemacht werden. Mehrkosten rentieren sich auf lange Sicht.
       
   IMG Bild: Pflegedienste hätten Probleme, wenn es weniger Migration gäbe
       
       Es ist eigentlich nicht so schwer zu verstehen: Gäbe es keine Migration,
       würde die Bevölkerung in der EU schrumpfen – mit dramatischen Folgen. Hatte
       die EU mit ihren 27 Ländern (ohne Großbritannien) am 1. Januar 2013 laut
       Eurostat 441,74 Millionen Einwohner, waren es Anfang 2024 bereits 449,3
       Millionen Einwohner. Das bedeutet ein Plus von 1,8 Prozent oder 7,6
       Millionen Personen binnen elf Jahren.
       
       Dieser Anstieg liegt nicht an der Geburtenrate der Einheimischen –
       [1][diese sinkt im EU-Schnitt seit 2016] –, sondern ist auf den Zuwachs der
       Ausländerinnen und Ausländer um 14,68 Millionen auf 43 Millionen Personen
       zurückzuführen. Ausländer machen heute 9,6 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung
       aus. Zwei Drittel von ihnen sind dabei Staatsbürger eines Nicht-EU-Landes
       (29 Millionen Personen), das übrige Drittel sind Staatsbürger eines anderen
       EU-Landes (14 Millionen Personen).
       
       Demgegenüber ging die Zahl der Inländer, also der Staatsbürger der EU, die
       in ihrem Heimatland leben, um stattliche 7,11 Millionen auf 406,29
       Millionen Personen zurück. Das ist ein Minus von 1,7 Prozent in elf Jahren.
       Die meisten EU-Staaten, darunter Deutschland, berücksichtigen bei der
       Erfassung der Einwohner Asylbewerber sowie Flüchtlinge, ebenso aus dem
       Nicht-EU-Land Ukraine. Staatenlose fallen statistisch nicht ins Gewicht.
       
       Betrachtet man die Bevölkerungsentwicklung in Verbindung mit der
       Staatsangehörigkeit in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten, schälen sich
       Unterschiede heraus. In Frankreich hat die Gesamtbevölkerung zugenommen,
       weil sowohl die Zahl der Einwohner mit nationaler als auch jener mit
       ausländischer Staatsangehörigkeit wuchs. In Deutschland und Österreich hat
       der Zuwachs der Ausländer den Rückgang der Einwohner mit nationalem Pass
       überkompensiert. Griechenland und Lettland wiesen einen Rückgang sowohl der
       Bevölkerung mit nationaler als auch jener mit ausländischer
       Staatsangehörigkeit auf.
       
       Unterm Strich leben in der EU mehr Menschen als zuvor. Das ist gut so. Der
       Haken: Laut der jüngsten Eurostat-Bevölkerungs-Vorausberechnung wird sich
       die Bevölkerung in der EU allerdings auf 440,1 Millionen Personen im Jahr
       2060 verringern. Dies entspricht einem Rückgang um gut neun Millionen
       Personen im Vergleich zum Stichtag am 1. Januar 2024.
       
       Dabei birgt ein Bevölkerungszuwachs wirtschaftliches Wachstumspotenzial.
       Mehr Menschen können potenziell mehr herstellen und mehr ausgeben, als dies
       weniger Menschen tun können. Wächst die Wirtschaft, wird der Kuchen größer.
       Um nicht Gefahr zu laufen, sich vom Ziel zu entfernen, die Perspektive auf
       ein Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, braucht die EU im Ganzen eine
       fortgesetzte Migration von außen, also von Staatsbürgern aus
       Nicht-EU-Ländern.
       
       Schon allein der Umstand, dass Anfang 2024 lediglich knapp 14 Millionen
       Menschen Staatsbürger eines EU-Landes, also nur drei Prozent der
       EU-Gesamtbevölkerung, in einem der übrigen 26 EU-Länder leben oder
       arbeiten, ist über 20 Jahre nach Inkrafttreten der maximalen Freizügigkeit
       für EU-Bürger in der Union kein Ruhmesblatt. Während der freie Waren-,
       Dienstleistungs- und Kapitalverkehr über die Grenzen der Mitgliedstaaten
       hinweg blüht, fristet die EU-Binnenmigration, eine der vier Grundfreiheiten
       der EU, hingegen weiterhin ein Mauerblümchendasein. Eine größere Mobilität
       von EU-Bürgern innerhalb der EU ist bis auf Weiteres nicht zu erwarten.
       
       Für eine fortwährende, starke Zuwanderung in die EU spricht zudem, dass die
       Ausländer, die bereits in der EU leben und arbeiten, im Schnitt zwei Jahre
       jünger als die in der EU geborenen Personen sind. Konkret: Am 1. Januar
       2024 lag das Durchschnittsalter der in der EU geborenen Personen bei 45,1
       Jahren, während das Durchschnittsalter der in der EU lebenden Personen
       ausländischer Herkunft 43,1 Jahren betrug. Je jünger die Bevölkerung ist,
       desto dynamischer ist eine Gesellschaft.
       
       Die schon rein objektive Notwendigkeit einer Zuwanderung kann nicht einfach
       beiseite geschoben werden. Stichwort Babyboomer: die bis 1964 geborene
       Generation scheidet nach und nach aus dem aktiven Arbeitsleben aus, [2][zu
       wenige Arbeitnehmer rücken nach]. Oder sollen vollautonome humanoide
       Roboter die Lücken schließen? Nur: Zahlen Roboter Sozialbeiträge?
       
       ## Rente nur sicher durch Migration
       
       Womit wir bei der Rente wären. Die Babyboomer warten zu Recht darauf, dass
       ihre Renten auf Grundlage des Generationenvertrags finanziert werden.
       [3][Wegen der zurückgehenden Anzahl der Inländer bei gleichzeitiger
       Alterung] können nur Ausländer und Ausländerinnen das Rentenniveau stabil
       halten oder steigen lassen. Betrachtet man die EU im Ganzen, ist dies wegen
       der lahmen EU-Binnenmigration nur durch Migranten und Migrantinnen aus
       Nicht-EU-Ländern zu bewerkstelligen.
       
       Gleichwohl: Das Rechnen mit Zahlen ist nicht alles. Es wäre
       kontraproduktiv, die Augen davor zu verschließen, dass die EU-Länder im
       Zuge der Migration bereits jetzt mit erheblichen Problemen zu kämpfen
       haben. Ob der akute Wohnungsraummangel, der Familiennachzug, die teils
       gravierenden kulturellen Unterschiede oder die oftmals mangelhafte
       Integration: Es ist nicht hilfreich und auch kontraproduktiv, diese
       Missstände unter den Teppich zu kehren. Sie müssen angegangen werden. Das
       geht nur, wenn die EU-Länder dafür Ressourcen bereitstellen. Das kostet
       Geld, bringt aber auch Geld. Wer clever in die Behebung dieser
       Schwierigkeiten investiert, der bekommt langfristig mehr zurück, als er
       ausgegeben hat.
       
       In letzter Konsequenz ist alles eine Frage des politischen Willens. Wollen
       wir ein schrumpfendes, alterndes und damit einhergehend schleichend
       verarmendes Europa? Europa sollte seine Zukunft nicht leichtfertig
       verspielen, indem einigen ihrer Entscheidungsträger in den Mitgliedstaaten
       nichts Gescheiteres einfällt, als Hass und Neid schürende Populisten,
       Rassisten und Faschisten nachzuplappern.
       
       3 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.iwd.de/artikel/geburtenraten-in-der-eu-sinken-647742/
   DIR [2] /Konservative-Anti-Migrations-Plaene/!6063398
   DIR [3] /Kuerzungsdebatte-im-Sozialbereich/!6102921
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ferry Batzoglou
       
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