# taz.de -- Klimakrise in Brüssel: Industrie und Länder greifen EU-Klima-Architektur an
> Die Welt tut deutlich zu wenig für den Klimaschutz, warnt ein Bericht.
> Derweil wollen einige Unternehmen und EU-Länder noch stärker bremsen.
IMG Bild: Der Weg zur Klimaneutralität ist noch weit, auch weil zu viel auf Gaskraftwerke gesetzt wird, anstatt endlich richtig zu handeln
taz | Während ein Bericht die weltweiten Klimaschutzanstrengungen als
vollkommen unzureichend beschreibt, greifen Teile der Industrie und einige
EU-Mitgliedsländer die Klimaschutz-Architektur der Europäischen Union an.
Der [1][State of Climate Action Report] zeigt, dass der Umbau von
Wirtschaft und Gesellschaft hin zur Klimaneutralität deutlich zu langsam
vorangeht. Weltweit müsste die [2][Stromerzeugung aus Gas] zum Beispiel
siebenmal schneller zurückgehen, Menschen in reichen Ländern müssten
fünfmal schneller ihren Rindfleisch-Verzehr reduzieren, und die
Mangrovenwälder der Erde müssten mehr als zehnmal so schnell
wiederhergestellt werden wie derzeit.
In fünf Bereichen geht die Entwicklung noch nicht einmal in die richtige
Richtung, sondern muss eine Kehrtwende hinlegen. Dazu gehören unter anderem
die anhaltenden staatlichen Gelder für fossile Unternehmen, die [3][trotz
der zunehmenden Eskalation der Erderhitzung] zunehmen. Auch die
Stahlherstellung wird weltweit immer klimaschädlicher, müsste aber
zunehmend mit Strom und Wasserstoff erfolgen.
## Industrie greift Klima-Architektur der EU an
In der EU soll der Emissionshandel 1 (ETS) den CO₂-Ausstoß der
Stahlindustrie und anderer Industriebranchen sowie der Stromerzeugung
senken. Im ETS wird eine begrenzte Zahl von CO₂-Zertifikaten versteigert,
die jeweils den Ausstoß einer Tonne CO₂ erlauben. So sollen die
CO₂-Emissionen der Industrie nach und nach begrenzt werden, weil die
Zertifikate immer seltener und deshalb teurer werden. Das System ist die
Grundlage der europäischen Klimaschutz-Architektur – und mächtige Konzerne
laufen dagegen nun Sturm.
Bislang erhält die Industrie noch viele kostenlose Zertifikate, um mit
internationalen Wettbewerbern mithalten zu können, die keinen CO₂-Preis
bezahlen. 2026 tritt jedoch eine Art CO₂-Zoll in Kraft, durch den zum
Beispiel importierter Stahl ebenfalls einen CO₂-Preis bekommt. Der
Wettbewerbsnachteil der EU-Industrie sinkt also, und deshalb auch die
Zuteilung kostenloser Zertifikate.
In einem Brief an die EU-Kommission warnten 79 Unternehmens-Vorstände,
darunter der Stahlhersteller ThyssenKrupp und der Chemieriese BASF, der
Wegfall der kostenlosen Zertifikate bedrohe „nicht nur einzelne
Transformationsprojekte, sondern die Wettbewerbsfähigkeit der industriellen
Basis in Europa insgesamt“. Ihnen zufolge gibt es noch zu viele
Schlupflöcher beim CO₂-Zoll.
Auf dem Kongress der Gewerkschaft Bergbau Chemie Energie (IG BCE) kündigte
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) Anfang der Woche Entlastungen beim
CO₂-Preis an.
Der Grünen-Politiker Michael Bloss hält die Debatte für „ein Ventil, aber
keine Lösung“. Entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit sei eine
strategische Industriepolitik mit „Leitmärkten für klimaneutrale Produkte,
Klimaschutzverträge für Investitionen und kurzfristige Entlastung bei den
Stromkosten – nicht das Aufweichen des Emissionshandels“, sagte der
Europaparlamentarier der taz.
Vor allem die Chemieindustrie sorgt sich auch darum, dass ab Ende der
2030er womöglich gar keine CO₂-Zertifikate mehr versteigert werden. Das
würde den Ausstoß von CO₂ deutlich verteuern, um die europäischen
Klimaziele einzuhalten. Unterstützung erhält die Industrie von
Klimaminister Carsten Schneider (SPD), der sich gegen ein Auslaufen der
Zuteilung von Zertifikaten aussprach. Darauf hatte auch die IG BCE
gedrungen.
## Auch EU-Länder wollen weniger Klimaschutz
Der Angriff auf die europäische Klima-Architektur beschränkt sich aber
nicht auf die Industrie. Auch einige süd- und osteuropäische Staaten wie
Polen, Ungarn und Zypern wollen den europäischen Klimaschutz aushöhlen.
Sie schickten am Montag einen Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von
der Leyen (CDU) und forderten, [4][den Start des ETS 2 von 2027 auf 2030 zu
verschieben]. Der ETS 2 funktioniert so wie der ETS 1, nur dass Heizen und
Tanken statt Strom und Industrie einen CO₂-Preis bekommen.
Über eine Verschiebung wird schon länger diskutiert, nicht zuletzt, weil in
Frankreich 2027 Präsidentschaftswahlen anstehen. Ein neuer CO₂-Preis für
Autofahrer*innen und Haushalte mit fossilen Heizungen würde die
Rechtsextremen stärken, fürchten einige in Brüssel und Berlin.
## Merz hatte im September das EU-Klimaziel verzögert
In Deutschland gibt es bereits einen CO₂-Preis, in vielen europäischen
Ländern aber nicht. Wer zum Beispiel in Ostpolen noch mit Kohle heizt,
müsste 2027 plötzlich deutlich mehr zahlen, um seine Wohnung warmzuhalten.
Dass der ETS 2 im Jahr 2027 startet, ist aber seit einigen Jahren klar. Die
Regierungen hätten deshalb zum Beispiel Wärmepumpen oder E-Autos fördern
können, um die Bürger*innen vor einem hohen CO₂-Preis zu schützen.
„Reformiert man das Instrument noch vor Einführung, stellt es infrage oder
verschiebt es, gefährdet man nur die Glaubwürdigkeit der gesamten
Klimapolitik“, sagt Niklas Illenseer von der Denkfabrik Dezernat Zukunft
zum Vorstoß der Osteuropäer*innen. Im ETS 2 gehe es um langfristige,
stabile Rahmenbedingungen.
Die EU-Kommission reagierte auf den Druck aus Ost- und Südeuropa und
kündigte an, Einnahmen aus dem ETS 2 schon vor seinem Start über Kredite
der Europäischen Investmentbank zu verteilen, um Entlastungsmaßnahmen
finanzieren zu können. Das hält Illenseer für eine gute Idee. Statt den
Start zu verschieben, müsse jetzt in die Dekarbonisierung der betroffenen
Bereiche investiert werden, zum Beispiel in die Gebäudesanierung und
Ladeinfrastruktur.
Zur Sprache kommen werden die Attacken der Industrie und Länder auf einem
Treffen der EU-Regierungschef*innen am Donnerstag in Brüssel. Sie beraten
außerdem über den Vorschlag der Kommission für das EU-Klimaziel, bis 2040
90 Prozent der CO₂-Emissionen einzusparen. [5][Merz hatte eine Abstimmung
im September blockiert], obwohl es dem deutschen Koalitionsvertrag
entspricht. Eine Entscheidung wird am Donnerstag nicht erwartet.
22 Oct 2025
## LINKS
DIR [1] https://www.wri.org/insights/climate-action-progress-1-5-degrees-c-2025
DIR [2] /Energiewende-Monitoring/!6104625
DIR [3] /Schaeden-durch-Naturkatastrophen/!6099485
DIR [4] /EU-Emissionshandel/!6058364
DIR [5] /Niederlage-fuer-Umweltminister/!6113571
## AUTOREN
DIR Jonas Waack
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sie.