URI: 
       # taz.de -- Deutsche Poetry-Slam-Meisterin: Ayşe Irem erdichtet sich den Meistertitel
       
       > Jung, muslimisch, weiblich: Ayşe Irem gewinnt die
       > Poetry-Slam-Meisterschaft. In ihren Texten denkt sie übers Auswandern
       > nach.
       
   IMG Bild: Konkret, poetisch, schmerzhaft: Ayşe Irem bei ihrem Auftritt in Chemnitz
       
       „Möchte ich auswandern, denke ich mir, oder muss ich das irgendwann?“, sagt
       Ayşe Irem ins Mikrofon bei der deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaft
       in Chemnitz am Wochenende. Ein Satz, der bleibt. Er schneidet durch die
       Oberfläche dieses Abends, getragen von einer Stimme, die ruhig klingt und
       doch von vielem erzählt. Auf der Bühne steht eine 26-Jährige aus Bielefeld,
       helles Kopftuch, runde Brille, das Smartphone als Manuskript in der Hand.
       Ihre Sprache ist präzise gesetzt. Sie kennt das Entstehen von Räumen, sie
       hat Architektur studiert. Doch die Räume, die ihr Leben bestimmen, sind
       andere – gebaut aus Herkunft, Haut, Sprache.
       
       Irem beginnt ihren Beitrag in Chemnitz mit einem fiktiven Dialog. „Kannst
       du dir vorstellen, auszuwandern?“ Eine Frage, so leicht gesagt, dass man
       fast übersieht, wie viel sie trägt. Doch sie antwortet nicht mit Sehnsucht,
       sondern mit Bildern, die viele kennen und doch kaum jemand ausspricht: den
       Pausenhof, auf dem Türkisch verboten war; die Namen, die nicht dazugehören;
       die Städte, deren Namen zu Wunden geworden sind – Solingen, Hanau, Halle.
       
       „Weil wir einfach nicht weiß genug waren“, sagt sie. Diese Zeilen treffen
       ins Herz dessen, [1][was man Alltagsrassismus nennt] – ein Begriff, der oft
       zu abstrakt klingt für das, was er meint. Bei ihr wird er konkret,
       greifbar, poetisch und schmerzhaft zugleich. Sie beschreibt nicht die
       großen, eruptiven Ereignisse, sondern die leisen Verletzungen, die sich
       summieren: die Frage nach der Herkunft, das Fremdeln im eigenen Land, die
       Erfahrung, immer etwas erklären zu müssen.
       
       ## Ausgerechnet in Chemnitz
       
       Dass Ayşe Irem ausgerechnet in Chemnitz auftritt, verleiht diesem Abend ein
       eigenes Gewicht. Eine Stadt, die einst [2][zum Symbol rechter Aufmärsche]
       wurde, wird zum Schauplatz eines anderen, leiseren Triumphes. Auf dieser
       Bühne steht eine junge Muslima und spricht über Rassismus, Zugehörigkeit,
       Sichtbarkeit. Es ist mehr als ein Sieg. Es ist ein Zeichen, dass sich etwas
       verschiebt, wer hier spricht – und wem zugehört wird. Ayşe Irem ist die
       erste Muslimin, die diesen Titel gewinnt, die erste Migrantin, erst die
       dritte Frau überhaupt. Zahlen, die erzählen, wie lange es gedauert hat, bis
       solche Stimmen gehört werden – und dass sie nun bleiben, hoffentlich.
       
       Irem tritt für „i,Slam“ an – ein Netzwerk muslimischer
       Poetry-Slammer*innen, das seit Jahren Stimmen auf die Bühne bringt, die
       sonst am Rand bleiben. Diese Zugehörigkeit ist für sie kein Label, sondern
       Haltung: Teilhabe als Selbstverständnis, Sichtbarkeit gegen das
       Verschwinden. Es geht nicht um Integration, sondern um das Recht, einfach
       da zu sein.
       
       Vielleicht hat da auch das Architekturstudium ihr Schreiben beeinflusst:
       das Bedürfnis, Räume zu öffnen, in denen Menschen wie sie nicht erklären,
       sondern erzählen dürfen. Wo Sprache als Zuhause funktioniert. Wo ein Satz
       wie „nie weiß genug zu sein“ nicht nur ein Gefühl beschreibt, sondern ein
       System entlarvt. Ihre Worte sind keine Anklage, sie sind Spiegel. Wer
       zuhört, erkennt darin ein Land, das sich postmigrantisch nennt und doch
       weiter sortiert, fragt, bewertet. Und zugleich spiegeln sie eine
       Generation, die den Ton wechselt – leise, klug, entschlossen.
       
       Am Ende ihres Auftritts in Chemnitz fragt wieder die Stimme aus dem Off:
       „Hast du nie darüber nachgedacht, auszuwandern?“ Und Irem antwortet ruhig,
       beinahe sachlich: „Doch, habe ich.“ Einen Atemzug später fügt sie hinzu:
       „Du lächelst. Du glaubst, wir würden beide ans Auswandern denken. Du
       glaubst auch, es wäre aus denselben Gründen.“
       
       5 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Stadtbild-Debatte/!6119202
   DIR [2] /Nach-Aufmaerschen-und-Gewalt/!6087797
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Derya Türkmen
       
       ## TAGS
       
   DIR Poetry Slam
   DIR Chemnitz
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Reden wir darüber
   DIR Social-Auswahl
   DIR Schwerpunkt Landtagswahl in Sachsen-Anhalt
   DIR Comedy
   DIR Kanzler Merz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR CDU vor der Landtagswahl Sachsen-Anhalt: Hauptsache geschlossen auftreten
       
       Die CDU Sachsen-Anhalt wählt Sven Schulze zum Spitzenkandidaten. Bei eher
       düsteren Aussichten für die Wahl 2026 heißt es: Lieber leise kritisieren.
       
   DIR Comedy-Preisträgerin Hazel Brugger: Konsequent authentisch
       
       Für ihre ESC-Moderation wurde Hazel Brugger beim Deutschen Comedypreises
       geehrt. Frühen Erfolg hatte die 31-Jährige mit ihren Poetry-Slams.
       
   DIR Stadtbild-Debatte: Das stört die Töchter
       
       „Fragen Sie mal Ihre Töchter“, sagte Kanzler Merz, als er gefragt wurde,
       was er mit seiner Stadtbild-Aussage meine. Alles klar, haben wir gemacht.