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       # taz.de -- Die Wahrheit: Ostwestfälischer Schleppanker
       
       > Wer mit der Liebsten die Berge hinauf und die Berge hinab wandert, sollte
       > sich und sein Übergewicht am Leib manchmal schonender transportieren.
       
       Ich war in den Bergen. Im Karwendel. Bei unverschämt schönem Herbstwetter.
       Meine Liebste hatte mich vor fünf Jahren das erste Mal so hoch hinaus
       gelockt. Damals: Zugspitze! Bamm! Der höchste Berg Deutschlands. Ich war
       dann der Wanderer mit dem höchsten Body-Mass-Index (BMI) am höchsten Berg.
       Meine Leistung mit dem BMI müsste neben allen anderen Rekordbesteigungen
       immer noch Bestand haben.
       
       Ich habe, seit sie mich auf die Berge lockt, zwölf Kilo verloren.
       Allerdings sitzen an mir locker weitere zwölf, die auch noch runter
       könnten. Mit diesem Zusatzgewicht steige ich auf Berge! Wobei: Ich bin kein
       Bergsteiger. Ich bin Wanderer. Das sagt unser Führer Martl immer: „Des is
       no koa Klettern ned.“ Oder, selbst wenn ich mich ans Stahlseil klammere und
       über Abgründe taste: „Des is a Radlweg!“
       
       Bei ihr, leichtfüßige Bergziege, die sie ist, wird jedes neue Ziel
       idealisiert: „Mein Lebens-traum!“ Ich wusste nicht, dass jemand so viele
       Lebensträume haben könnte. In dieser Reihenfolge: Zugspitze, Dolomiten,
       Alpüberquerung auf dem Pflerscher-Tribulaun-Weg und jetzt Karwendel. Alles
       Wege, die mich eher schwergewichtiges Nilpferd, gemütlich, aber reizbar,
       jedes Mal an meine Grenzen führen. Ich träume inzwischen von mufflonartigen
       Fähigkeiten, von steinböckigem Talent.
       
       Nun also Karwendel. Diese Berge bestehen aus brüchigem Wettersteinkalk, was
       zur Folge hat, dass du oft in Geröll wanderst. Dort sind Aufstieg und
       Abstieg noch fieser als ohnehin schon. Wir waren am ersten Tag von
       Hinterriß über den kleinen Ahornboden zum Karwendelhaus aufgestiegen. 905
       Höhenmeter nur, aber oben war klar: Am nächsten Tag muss ich die Strecke
       erst gar nicht mitgehen, wenn wir überhaupt das Folgeziel, die
       Halleranger-Alm, würden erreichen wollen.
       
       Die Liebste und Martl machten sich morgens auf den Weg. Ich wartete mit
       anderen auf ein Taxi, um aus dem einen Tal raus und ins nächste Tal
       reinzufahren – und dann lägen immer noch 500 Höhenmeter Aufstieg vor uns.
       Im Taxi traf ich Vroni, Marie und Leni, drei Oberösterreicherinnen, um die
       60, topfit und bestens gelaunt, Ob ich auch absteigen würde? Nein, die
       anderen machen die Route über Schlauchkarr und die Birkarrspitze, ich träfe
       sie erst unten wieder, um dann gemeinsam weiterzugehen.
       
       Nun ruckte es in den Gesichtern der drei. Was? Ein Mann, der eingesteht,
       dass er etwas nicht schafft? Einer, der so vernünftig ist, nicht
       aufzusteigen, wenn es ihn überfordert? Herausragend. Vorbildhaft.
       Einzigartig. Von Kurve zu Kurve wurde ich mehr gelobt für eine Strecke, die
       ich gar nicht beschritten hatte.
       
       Ich fuhr bis zu den Isarquellen und wanderte weiter zur Kastenalm. Sie
       kamen mit fast zwei Stunden Verspätung. Die Liebste fiel mir um den Hals:
       „Es war die Hölle. Jetzt weiß ich erst, wie du dich fühlst, wenn du hinter
       uns gehst.“ Sie küsste mich. „Du hast mir gefehlt, mein ostwestfälischer
       Schleppanker!“
       
       5 Nov 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernd Gieseking
       
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