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       # taz.de -- Der Osten und der Rechtsruck: Ein großes Trainingslager der Geschichte
       
       > Je weiter der Diskurs der Realität entrückt, desto stärker weckt er
       > Assoziationen an die DDR. Solange man dranbleibt, ist aber nichts
       > aussichtslos.
       
       Vor ein paar Jahren saßen wir in einer Diskursveranstaltung in der Berliner
       Schaubühne. Ein westdeutscher Fernsehsoziologe sprach mit einer Autorin aus
       Brandenburg über den Aufstieg der AfD, die zu diesem Zeitpunkt im Osten auf
       einen Wähleranteil von gut zehn Prozent kam. Die Autorin berichtete von
       ihrer Kindheit in den 1990er-Jahren, den Schock der Massenarbeitslosigkeit
       in ihrer Heimatstadt, die seither ein Drittel ihrer Einwohner verloren hat.
       
       Sie sprach über schmerzhafte Brüche und Kontinuitäten autoritärer
       Einstellungen. Und sie äußerte die Ahnung, dass der Aufstieg der Rechten im
       Osten das Vorzeichen einer Entwicklung sein könnte, die bald ganz
       Deutschland betreffe. Das zum großen Teil Westberliner Publikum hörte
       befremdet, ungläubig, zum Teil erkennbar verärgert zu: Mein Gott, diese
       Ossis mit ihren Befindlichkeiten! Was haben wir damit zu tun? Es war
       Dezember, auf dem Ku’damm fiel Schnee.
       
       Der Fernsehsoziologe verabschiedete sich nach anderthalb Stunden und
       wünschte allerseits schöne Feiertage. Im Übrigen, so beruhigte er das
       Publikum, geschähen derartige Veränderungen aus soziologischer Sicht immer
       sehr, sehr langsam. Diese Mitteilung aus dem Reich soziologischer
       Wissenschaft oder westdeutscher Selbstgewissheit kam so unerwartet, war so
       ohne jedes Verständnis für das eben Geschilderte, dass wir verblüfft
       losprusteten.
       
       Während der Großteil des Publikums applaudierte, starrten wir Ostdeutschen
       uns ungläubig an. Auch die Autorin war sichtlich verblüfft. Welche sehr
       langsamen Veränderungen waren gemeint? Der Zusammenbruch der DDR, der
       wirtschaftliche Anschluss an die Bundesrepublik mit all seinen
       Verwerfungen, auch der Aufstieg der AfD passierten doch rasend schnell. War
       so etwas für den Westen auszuschließen? Waren wir Ossis ein soziologischer
       Sonderfall?
       
       ## Die Dinge beim Namen nennen
       
       Heute, keine fünf Jahre später, liegt die AfD deutschlandweit bei über 20
       Prozent. Vermutlich gehört sogar ein Teil des damaligen Publikums
       inzwischen zu ihrer Klientel. Die politische Mitte rückt in atemberaubendem
       Tempo nach rechts und beschwört gleichzeitig – in einem Akt kollektiver
       Autosuggestion – unsere demokratischen Werte. Man muss nicht Äpfel mit
       Birnen vergleichen, aber die Ablösung des offiziellen politischen Diskurses
       von bedeutenden Teilen der Realität erinnert inzwischen stark an die
       Spätphase der DDR.
       
       Es ist kein Zufall, dass inzwischen auch ähnliche Witze im Umlauf sind. Die
       vier größten Probleme der Deutschen Bahn: Frühling, Sommer, Herbst und
       Winter. Die politische Lage muss nicht, kann aber bei Menschen mit
       DDR-Sozialisation durchaus Heiterkeit auslösen. Ja, Sie haben richtig
       gelesen: Heiterkeit. Als wir (die Autoren) vor einem Jahr einen nüchternen,
       tagebuchartigen Artikel über die Dominanz rechter Diskurse im Osten und das
       mutlose Agieren der Politik vor Ort veröffentlichten, war die breite
       Reaktion darauf: „Mutig, sehr mutig!“
       
       Offenbar ist das Aussprechen des Offensichtlichen alles andere als normal.
       Aber was genau erfordert hier Mut? Warum fällt es so schwer, über den
       drohenden Kollaps unseres Systems zu sprechen? Warum wird in großen Teilen
       der Öffentlichkeit so getan, als könne man den Abschied sehr vieler
       Menschen von demokratischen Werten und Menschenrechten ignorieren?
       
       Vermutlich ist die Idee, die Entwicklung der westlichen Demokratien sei
       tatsächlich das Ende der Geschichte, immer noch tief im öffentlichen
       Bewusstsein verwurzelt. Obwohl nicht nur Schwurbler, sondern längst auch
       politische Mandatsträger mit obskuren alternativen Wahrheiten hantieren,
       ist der Glaube an eine gemeinsame, staatlich vermittelte
       Realitätsvorstellung fast unausrottbar und bildet gewissermaßen die
       Kehrseite zu den immer schrilleren Verschwörungstheorien.
       
       Vielleicht ist es aber auch die Fantasielosigkeit einer gesellschaftlichen
       Schicht, die soziale Brüche nur vom Hörensagen kennt; die sich einfach
       nicht vorstellen kann, dass die Dinge auch prinzipiell anders sein können
       als gewohnt. In seinem Essay „[1][Versuch in der Wahrheit zu leben]“
       schrieb der tschechische Dissident und spätere Präsident [2][Václav Havel]
       1978, jenseits von ideologischen Ritualen hätten sich in Osteuropa längst
       dieselben Lebenswerte durchgesetzt wie in allen westlichen Ländern.
       
       ## Jugend im real existierenden Sozialismus
       
       Im Grunde habe es sich also nur um eine Spezialform der Konsum- und
       Industriegesellschaft gehandelt. Äußerlich im Rückstand, sei der real
       existierende Sozialismus in Wirklichkeit eine Art Erinnerungsort, der dem
       Westen die eigenen latenten Richtungstendenzen enthülle. Sollte Havels
       Prognose stimmen, war unsere Jugend im real existierenden Sozialismus also
       ein privilegierter Blick in die Zukunft, eine Art Trainingslager für das
       21. Jahrhundert.
       
       Was können wir nun aus diesem Trainingslager berichten? Was haben wir
       gelernt, was uns heute, da das Ende der westlichen Demokratien unmittelbar
       droht, hilfreich sein könnte? Wir wurden zwar unter besonderen Umständen
       trainiert, begriffen uns aber als Teil der Welt. Wir lasen alles, was uns
       über die Welt da draußen in die Finger kam, sei es über den antikolonialen
       Befreiungskampf, über die [3][Umweltbewegung], über die
       [4][Studentenbewegung] oder den [5][Feminismus].
       
       Die evangelischen Kirchen in der DDR, in deren Umfeld unser Trainingslager
       stattfand, hatten sich in den 1980er-Jahren dem [6][Konziliaren Prozess]
       verschrieben, also eine gegenseitige, globale Verpflichtung auf
       Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Wir wussten sehr wohl,
       dass der Kapitalismus in dieser Hinsicht nicht das Gelbe vom Ei war. Klar
       war uns aber auch, welche Rechte und Freiheiten er der Mehrheit seiner
       Bewohner*innen gewährte.
       
       Wir hatten ein Gefühl dafür, dass der Kapitalismus eine Reihe von Problemen
       nicht nur nicht gelöst, sondern im Grunde radikal verschärft hatte. Auch in
       der späten DDR waren die multiplen Probleme nicht zu übersehen. In der
       Öffentlichkeit spielten sie trotzdem kaum eine Rolle – und nicht nur in der
       direkt gelenkten medialen Öffentlichkeit.
       
       Der Versuch der kirchlichen Umweltbewegung, bei ihren Protesten gegen die
       groteske Verschmutzung im Raum [7][Bitterfeld-Wolfen] eine breitere
       Unterstützung der lokalen Bevölkerung zu mobilisieren, scheiterte
       beispielsweise kläglich. Das Bemühen der zahllosen gesellschaftlichen
       Einrichtungen vom Kindergarten bis zum Altersheim, vom Fernsehballett bis
       zum Stadttheater kreiste um die Aufrechterhaltung ideologischer Rituale.
       Wirklichkeit hatte darin keinen Platz.
       
       Eine kritische Medienrezeption, also die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu
       lesen, ideologische Phrasen gerade daraufhin zu überprüfen, was sie
       verschweigen oder umdeuten sollten, wurde ausgiebig trainiert. Lügen
       offenbaren den Verblendungsgrad einer Gesellschaft dort am grellsten, wo
       sie freiwillig und in aller Naivität wiederholt werden. Es war eine
       besondere Form des Trainings, in der Schule oder am Arbeitsplatz auf die
       vielen Widersprüche in den offiziellen Verlautbarungen oder auf die vielen
       Widersprüche in der marxistischen Literatur hinzuweisen.
       
       ## Irritierende Widersprüche
       
       Mehr Anstrengung und Disziplin erforderte es, auch Nachbarn und
       Kommilitonen immer und immer wieder auf den verinnerlichten Unsinn
       hinzuweisen. Offene Räume für Austausch und Vernetzung waren eine
       Grundbedingung für unser Trainingslager: In den Gemeinderäumen der
       evangelischen Kirchen trafen sich damals Hippies und Punks mit
       Tramperschuhen, Jesus-Latschen oder Schnürstiefeln.
       
       Daneben oder dazwischen sammelten Umweltaktivisten Daten und kopierten
       Drucksachen, Feministinnen gaben Sex-Workshops, Schwule und Lesben
       diskutierten das Patriarchat, Bausoldaten tauschten Erfahrungen aus oder
       berieten [8][Kriegsdienstverweigerer]. Nicht alle hier waren einer Meinung,
       aber sie stritten miteinander um eine gemeinsame Zukunft. Es ging nicht
       darum, wer von diesen Gruppen am stärksten von Repressionen betroffen war
       und wer weniger, es ging um gegenseitiges Verständnis und Solidarität.
       
       Hätten wir das Wort schon gekannt, wir hätten von intersektionalem
       Widerstand gesprochen. Das Bilden schmutziger Allianzen, also von
       Bündnissen, die nicht in allen Punkten inhaltlich übereinstimmen mussten,
       war überlebenswichtig. Trainiert wurde auch das Aushalten von Ambivalenzen:
       Einige von uns waren, das wussten wir, eingebunden in staatliche
       Machtstrukturen. Von niemandem hier wurde der Nachweis einer weißen Weste
       verlangt.
       
       Auch die Sitzungen an den runden Tischen der Wendezeit wurden meist von
       kirchlichen Akteuren initiiert. Sie wussten, wie die unterschiedlichsten
       Akteure produktiv miteinander streiten können. Heute ist eine
       Diskussionskultur, die derart unterschiedliche gesellschaftliche Akteure
       einzubinden versteht, fast so utopisch wie ein Champions-League-Sieg des
       [9][FC Magdeburg].
       
       Natürlich wussten wir damals, dass die unterschiedlichen Gruppen unseres
       Trainingslagers, auch alle zusammengenommen, nur eine winzige Minderheit
       bildeten. Trotzdem: Auch ohne demokratische Legitimation glaubten wir an
       ein demokratisches, gleichberechtigtes Miteinander. Und wir glaubten daran,
       dass auch kleine Gruppen gesellschaftsverändernde Kräfte mobilisieren
       können. Den rasanten Zusammenbruch der DDR, das Ende des real existierenden
       Sozialismus, sah niemand voraus.
       
       ## Zuversichtlich bleiben
       
       Wir wussten um die Möglichkeiten des Machtapparats, jeden Protest im Keim
       zu ersticken. Wir hatten, was eine Verbesserung unserer Lage betraf, also
       wenig Grund zu Optimismus. Und waren zuversichtlich. Und das ist vielleicht
       die wichtigste aller Lektionen. Denn nicht nur, was den Aufstieg rechter
       oder faschistischer Kräfte betrifft, das System, dass wir vor ihnen zu
       schützen versuchen, steuert geradewegs und offenbar mit der Zustimmung auch
       der politischen Mitte in eine ökologische Katastrophe.
       
       Was wir aus dem Trainingslager unserer Jugend lernen können, ist, ohne die
       geringste Hoffnung auf Erfolg, sozusagen gegen jede historische
       Notwendigkeit, weiter das zu tun, was wir aus ethischer Überzeugung für
       richtig halten. Einfach um unserer selbst willen. Havel nannte diese
       Haltung Zuversicht. Und aus dieser Zuversicht heraus kann sogar angesichts
       drohender Katastrophen so etwas wie Heiterkeit erwachsen.
       
       9 Nov 2025
       
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