# taz.de -- Sexualisierte Gewalt in Berlin: Hätte „Ja heißt Ja“ dieser Frau geholfen?
> Gegen ihren Willen hat ein Mann Sex mit einer Frau. Die Ermittlungen
> werden eingestellt. Ein Beispiel dafür, was im deutschen Sexualstrafrecht
> fehlt.
IMG Bild: Ihr reicht eine Entschuldigung nicht: Anna S
Am Ende eines offenbar schlimmen Abends ist die Sache eigentlich klar. Auch
der Mann gibt es zu. Er hatte Sex mit einer Frau, Anna S., die das offenbar
nicht wollte. Er hat sie gewürgt und erniedrigt. Für Anna S. war es eine
Vergewaltigung.
In Chats am Tag danach schreibt er: „Ich bin eindeutig zu weit gegangen,
als ich diese ‚aktiven‘ sexuellen Handlungen gestartet habe.“ Er
entschuldigt sich, schreibt, dass er Würgen eigentlich selbst gar nicht
mag. Er bereue, was passiert ist. „Es ist ganz allein meine Schuld und
meine Verantwortung.“ Und: „Wegen meiner vernebelten Sinne konnte ich deine
Signale nicht deuten.“
Anna S. reicht die Entschuldigung nicht. Denn dieser Abend, sagt sie, wiegt
schwer. Eine Gynäkologin hat ihre Verletzungen dokumentiert. Ein
Psychotherapeut hat eine posttraumatische Belastungsstörung festgestellt.
Bis heute ist sie in Therapie. Anna S. möchte, dass der Mann verurteilt
wird. Doch das wird nicht passieren. Denn das deutsche Sexualstrafrecht
gibt das nicht her.
Ende Oktober hat Frankreich [1][ein Gesetz verabschiedet], das einer
kleinen Revolution gleichkommt. Nach dem [2][Fall von Gisèle Pelicot], die
von ihrem Ehemann betäubt und Dutzenden Männern zur Vergewaltigung
angeboten wurde, gilt im französischen Sexualstrafrecht nun „Ja heißt Ja“.
Sex ist nur noch dann einvernehmlich, wenn beide Personen ihm zustimmen, in
einem Gespräch, mit einem „Ja“ oder einem zustimmenden Stöhnen.
## Der Täter muss Beweise liefern
Frankreich setzt damit um, was 14 andere europäische Länder längst haben
und was internationale Abkommen schon lange fordern – auch von Deutschland.
Aber Deutschland sträubt sich. Hier gilt: „Nein heißt Nein.“ Nicht die
Zustimmung zählt also, sondern die Abwehr. Wer keinen Sex will, muss das
deutlich machen und es im Zweifel später beweisen können. „Ja heißt Ja“
kehrt die Beweislast um. Nicht mehr das vermeintliche Opfer muss
nachweisen, dass es keinen Sex wollte. Der vermeintliche Täter muss
beweisen, dass beide wollten.
Anna S. ist eine zierliche Frau. Sie ist 25 Jahre alt und stammt aus
Russland. Seit dreieinhalb Jahren lebt sie in Berlin. Deutsch spricht sie
nicht, dafür umso besser Englisch. Sie ist Softwareentwicklerin. Als
Russland 2022 die Ukraine überfällt, arbeitet sie für die Deutsche Bank in
Moskau. Das Büro wird geschlossen, Anna S. zieht ihrem Job hinterher nach
Berlin.
Im Januar 2023 lädt ein Bekannter sie zu sich ein. Eine kleine Party soll
es werden. Fotos zeigen eine ausgelassene Runde, es wird gelacht, Karten
gespielt, Wein getrunken. Anna S. sagt, sie sei angetrunken gewesen, aber
nicht so, dass sie die Kontrolle verloren habe.
Als sich die Runde am frühen Abend auflöst und Anna S. auf dem Heimweg ist,
schreibt ihr ein junger Mann, den sie auf der Party kennengelernt hat. Er
fragt, ob sie sich noch treffen wollen, weiter Alkohol trinken, erzählt
sie. Anna S. hatte auf der Feier mit ihm gesprochen, er habe von seiner
Freundin erzählt, und dass er auch einen Job bei der Deutschen Bank suche.
Deswegen hatte sie ihm ihre Nummer gegeben. Unverfänglich, habe sie
gedacht.
## S. spricht ruhig, fast distanziert
Als sie ihm kurz darauf die Tür öffnet, sei alles sehr schnell gegangen. Er
habe sie fest an den Schultern gepackt und geküsst, quasi überfallen. Er
habe sie gezwungen, die Schlafcouch auszuklappen und sie darauf geworfen.
Er habe sie gewürgt, sodass sie keine Luft bekommen habe, sie geschlagen,
beschimpft, zum Oralsex gezwungen und sei mit dem Finger in sie
eingedrungen.
So erzählt Anna S. es zwei Jahre später in ihrem Wohnzimmer. Sie spricht
ruhig, fast distanziert. Sie hat ihre Geschichte schon oft erzählt, der
Polizei, einer Richterin, Anwältinnen. Die taz hat versucht, auch mit dem
Mann zu sprechen. Er hat das abgelehnt. Auch gegenüber der Polizei und dem
Gericht hat er nicht ausgesagt.
Anna S. erinnert sich nicht mehr an alle Details des Abends, aber an das
Gefühl, das sie hatte: Angst.
Anna S. sagt nicht „Nein“. Sie schiebt den Mann nicht weg. Sie schreit
nicht um Hilfe. Sie habe ihren Kopf weggedreht, um ihm auszuweichen. „Ich
war in einer Schockstarre“, sagt sie. „Ich hatte Angst, dass er noch
aggressiver wird, wenn ich mich wehre.“
Nach der Tat kann sie nicht schlafen. Sie hat Schmerzen am Körper, das
Schlucken fällt ihr schwer. Am Hals hat sie Würgemale, an den Brüsten blaue
Flecken, von beiden macht sie Fotos. Sie blockiert den Mann in ihrem Handy,
er soll ihr nicht mehr schreiben können.
Aber er meldet sich von einem anderen Account. „Bitte verzeih mir, wenn ich
dich verletzt habe“, schreibt er. Er entschuldigt sich, schreibt, dass er
verstehen könne, wenn sie sich von dem Erlebnis nur schwer erholen könne.
## S. lässt ihre Verletzungen dokumentieren
Sie schreibt, dass es ihr nicht gut gehe. Dass sie zu geschockt gewesen
sei, um ihn abzuwehren. Dass sie nicht gewürgt und nicht geschlagen werden
wollte. Aber sie schreibt auch, dass sie verstehe, dass ihm in seinem
betrunkenen Zustand nicht klar gewesen sei, dass das für sie nicht in
Ordnung sei. Sie schrieb das, sagt sie heute, weil sie wollte, dass er
zugibt, ihr Gewalt angetan zu haben.
Anna S. geht zu einer Frauenberatungsstelle, sucht sich eine Anwältin und
erstattet Anzeige. In der Gewaltschutzambulanz der Charité lässt sie ihre
Verletzungen dokumentieren.
Und erst sieht es so aus, als sei dieser Weg erfolgversprechend. Die
Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen auf, dokumentiert die Chats und
befragt Freund*innen von Anna S. Sie selbst sagt in einer Videovernehmung
vor einer Richterin aus. Dann hört sie lange nichts.
Knapp zwei Jahre nach der Anzeige erhält Anna S. einen Brief der
Staatsanwaltschaft: Die Ermittlungen wurden eingestellt. Es lasse sich
nicht mit Sicherheit feststellen, dass Anna S. „tatsächlich objektiv und
für den Beschuldigten eindeutig wahrnehmbar“ gezeigt habe, dass sie keinen
Sex wolle. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass der ihre Ablehnung
erkannt und sich vorsätzlich darüber hinweggesetzt habe.
„Das alles bedeutet nicht“, heißt es weiter, dass Anna S. nicht geglaubt
würde. Es sei lediglich nicht zu erwarten, dass der Mann im Fall eines
Prozesses verurteilt werden würde. Zu den Verletzungen, die er Anna S.
durch das Würgen und Schlagen zugefügt hat, heißt es fast lapidar, es werde
„auf den Privatklageweg verwiesen“.
Anna S. kann es nicht fassen.
Im Jahr 2023, als Anna S. die Tat anzeigt, nimmt die Berliner
Staatsanwaltschaft 2.147 Ermittlungsverfahren wegen sexueller Übergriffe,
sexueller Nötigung oder Vergewaltigung auf. 1.579 Verfahren werden in
diesem Jahr eingestellt, nur 74 Personen werden verurteilt. Bundesweit
gehen Expert*innen davon aus, dass etwa 8 bis 10 Prozent aller
angezeigten Vergewaltigungen verurteilt werden.
Sabine Kräuter-Stockton hat viele Jahre als Oberstaatsanwältin gearbeitet.
Sie ist eine der prominentesten Kämpferinnen für eine Reform des
Sexualstrafrechts in Deutschland. Sie will, dass auch hierzulande „Ja heißt
Ja“ gilt. Auch sie sagt, dass unter der geltenden Rechtslage der Fall von
Anna S. eher nicht als Vergewaltigung gewertet werden kann. „Was ich der
Berliner Staatsanwaltschaft aber vorwerfe, ist, dass sie die
Körperverletzung nicht verfolgt hat.“
Für Kräuter-Stockton zeigt der Fall von Anna S., warum das deutsche
Sexualstrafrecht reformiert werden muss. „Unser aktuelles Gesetz bürdet dem
Opfer die Verantwortung auf, seinen Gegenwillen äußerlich erkennbar
auszudrücken. Es muss deutlich zeigen, dass es nicht einverstanden ist. Wer
das nicht macht, hat Pech.“ Kräuter-Stockton geht davon aus, dass in
Spanien der Mann hätte verurteilt werden können, wäre der Fall von Anna S.
dort passiert.
Wie genau „Ja heißt Ja“ ausgelegt wird, sagt Kräuter-Stockton, sei in allen
Ländern etwas anders. „Überall gleich ist allerdings, dass Passivität nicht
als Zustimmung gewertet wird. Nur weil eine Frau sich nicht wehrt, bedeutet
das noch lange kein Einverständnis.“
Für sie ist das nur folgerichtig. Schließlich werde auch in anderen
Rechtsgebieten kein klares „Nein“ vorausgesetzt. „Wenn Sie mir mein Handy
klauen, muss ich auch nicht beweisen, dass ich das nicht wollte. Es ist
Diebstahl, egal, ob ich Nein gesagt habe oder nicht.“
Die Erfahrung aus den anderen Ländern zeige, dass das Prinzip „Ja heißt Ja“
nicht unbedingt dazu führt, dass deutlich mehr Sexualstraftaten angezeigt
werden, sagt Kräuter-Stockton. „Aber es gibt dann eine Chance, dass mehr
strafwürdige Fälle werden, die bei jetziger Rechtslage folgenlos bleiben.“
Doch reicht ein neues Gesetz? Frauenrechtsorganisationen bemängeln, dass es
nicht nur am Gesetz liege, ob Frauen in Deutschland geschützt werden.
Häufig liefen schon die Ermittlungen schlecht. Sabine Kräuter-Stockton
kennt die Kritik. Und trotzdem, sagt sie, wäre mit einem Gesetz viel
gewonnen: „Als vor knapp zehn Jahren ‚Nein heißt Nein‘ deutsches Gesetz
wurde, hat das den Diskurs über sexualisierte Gewalt massiv verändert. So
einen Effekt erhoffe ich mir auch von ‚Ja heißt Ja‘: ein gesellschaftliches
Umdenken zu der Frage, wie wichtig Konsens ist.“
Politisch sieht es nicht danach aus, als käme so eine Reform in naher
Zukunft. Die SPD-Justizministerin und ehemalige Staatsanwältin Stefanie
Hubig hat gerade [3][im taz-Interview] erklärt, dass sie sich ein „Ja heißt
Ja“ bei Jugendlichen vorstellen könne, wegen ihrer besonderen
Schutzbedürftigkeit. Alles weitere müsse diskutiert werden.
Anna S. hat mit ihrer Anwältin Beschwerde gegen die Entscheidung der
Berliner Staatsanwaltschaft eingelegt. Aber auch die
Generalstaatsanwaltschaft hat es abgelehnt, Klage zu erheben. Mit Hilfe
einer Opferschutzorganisation hat Anna S. eine neue Wohnung gefunden. In
der alten, in der sie den Abend mit dem Mann erlebt hat, wollte sie nicht
bleiben.
8 Nov 2025
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## AUTOREN
DIR Anne Fromm
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