URI: 
       # taz.de -- Friedrich Merz feiert Geburtstag: Machen Sie einen Neustart!
       
       > Der Bundeskanzler wird am 11. November 70 Jahre. Unser Kolumnist
       > gratuliert, aber hätte da auch ein paar Wünsche.
       
   IMG Bild: Friedrich Merz nach seiner Ernennung zum Bundeskanzler im Schloß Bellvue am 06.05.2025
       
       Lieber Friedrich Merz, am 11. November werden Sie 70. Es ist der erste
       Geburtstag, den Sie als Bundeskanzler feiern können. Herzlichen
       Glückwunsch!
       
       Der Schreibtisch, an dem ich Ihnen diese Zeilen schreibe, befindet sich im
       vierten Stock eines Neubaus in Kreuzberg. Im Herzen Deutschlands also, auch
       wenn Sie diesen Fakt vor einiger Zeit bestritten haben. „Nicht Kreuzberg
       ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland“, haben Sie vor zwei Jahren
       gesagt. Nicht im Ernst, das haben wir alle verstanden. Aber Sie wollten mit
       dieser plakativen Aussage doch einen Punkt machen, den ich problematisch
       finde. Denn der Gillamoos ist ganz sicher nicht so repräsentativ für dieses
       Land wie Kreuzberg. Kreuzberg ist in diesem Sinn deutscher als der
       Gillamoos. Im Guten wie im Schlechten.
       
       Die Fehleinschätzung, was zu Deutschland gehört und was nicht, erscheint
       mir symptomatisch. Sie und Ihre Union scheinen nicht mehr zu wissen, wer
       Sie sind, wofür Sie stehen und was Sie wollen.
       
       CDU und CSU sind ökumenische Parteien, die schon lange auch Nichtchristen
       willkommen heißen. Früher war das anders. Die Christdemokratie hat sich
       historisch als Partei des politischen Katholizismus entwickelt. Wie die
       Päpste hielt auch der politische Katholizismus nicht immer schon die
       Demokratie für die beste Staatsform. Viele seiner Protagonisten fanden den
       autoritären Ständestaat auf Basis christlicher Werte die bessere Idee.
       
       Für die Union stand seit ihrer Gründung aber außer Frage, dass die
       Demokratie die beste Staatsform ist. Die Union hielt die Balance zwischen
       den Polen konservativ und liberal. Im Großen und Ganzen ist sie in den
       vergangenen Jahrzehnten der Maxime gefolgt, die Franz Josef Strauß im Jahr
       1968 formuliert hat: „Wir sollen ‚konservativ‘ so denken, formulieren und
       anwenden, dass konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts zu
       marschieren, dass konservativ heißt, das, was am überkommenen Erbe
       erhaltenswert und gut ist, zu erhalten, dass konservativ aber auch heißt,
       ständig neue Werte zu schaffen, die der Konservierung wert sind.“ Das ist
       nicht das schlechteste Programm für eine Volkspartei.
       
       Auch wenn es immer noch Leute in Ihren Reihen gibt, die Konservatismus mit
       Reaktion verwechseln: Zurück können Sie nicht. Denn Sie haben ernsthafte
       Konkurrenz von rechts außen bekommen. Das scheint Sie mehr zu verunsichern,
       als Sie zugeben. Obwohl Sie inzwischen wissen müssten, dass die Leute
       lieber das Original wählen, versuchen Sie immer wieder, die AfD zu
       kopieren. Obwohl fast allen klar ist, dass wir Migration brauchen, damit
       der Laden läuft, beschreibt die Union heute Migration als solche ständig
       als Problem, statt die spezifischen Probleme zu benennen, die Migration mit
       sich bringt.
       
       Freunde von mir, die nicht so aussehen, wie der verrohte Teil der Mitte
       sich Deutsche vorstellt, berichten von einer zunehmenden Feindseligkeit,
       die ihnen in Berlin entgegenschlägt. Sie werden beleidigt. Man sagt ihnen
       in der Tram frech ins Gesicht, sie sollen sofort das Land verlassen. Sie
       werden sogar physisch angegriffen. Das gab es früher auch, sagen sie, aber
       nicht in diesem Maß. Diese Entwicklung ist das Ergebnis einer politischen
       Rhetorik, die Migration vor allem mit Gefahr und Sozialbetrug in Verbindung
       bringt.
       
       ## Hier kommt das Stadtbild ins Spiel
       
       Sie ahnen es schon, hier kommt [1][das Stadtbild] ins Spiel. Auch dieses
       Wort war von Ihnen schlecht gewählt. Weil sehr viele Deutsche, deren Eltern
       und Großeltern in dieses Land kamen und an der Mehrung seines Wohlstands
       mitgearbeitet haben, das ungute Gefühl beschlichen hat, dass der
       Bundeskanzler sie nicht mehr im Stadtbild sehen möchte. Weil andere
       Deutsche sich durch Ihre Wortwahl darin bestärkt sehen, meine Freunde in
       der Tram zu beleidigen und auf der Straße anzugreifen.
       
       Ich weiß, auch das haben Sie nicht so gemeint. Aber warum haben Sie sich
       dann eine Woche Zeit gelassen, um zu erklären, was Sie damit gemeint haben?
       Oder es nicht gleich gesagt? Präzise, unmissverständlich, und ohne die
       haltlose und – es tut mir leid, das kann ich Ihnen auch an Ihrem Geburtstag
       nicht ersparen – rassistische Rede vom „Stadtbild“?
       
       Sie erscheinen mit solchen Sprüchen nicht als durchsetzungskräftig. Sie
       vermitteln damit vielmehr das Bild eines irrlichternden Manns aus der
       sauerländischen Provinz, der noch nicht in seine Rolle als Kanzler der
       Bundesrepublik Deutschland gefunden hat. Sagen Sie stattdessen konkret und
       präzise, was Sie denken, was Sie als Problem betrachten, was Sie dagegen
       tun wollen. Wir brauchen einen souveränen Kanzler. [2][Wir brauchen eine
       stabile, demokratische Union, die weiß, wer sie ist.] Die sich nicht von
       einer anderen Partei vor sich her treiben lässt, die von Rechtsextremisten
       durchsetzt und Putins Handlanger in Deutschland ist.
       
       Die Zukunft dieses Landes und die Zukunft Ihrer Partei hängen eng zusammen.
       Populismus aus der Union stärkt die Populisten, und von denen haben wir
       schon mehr als genug. Das heißt, auf Sie kommt es jetzt an. Genießen Sie
       also Ihre Torte und machen Sie einen Neustart. Die Leute werden es Ihnen
       danken. Sie warten darauf, dass die Union zu sich selbst zurückfindet.
       Alles Gute aus Kreuzberg, Deutschland. Ihr Ulrich Gutmair
       
       11 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Migrationsdebatten/!6126157
   DIR [2] /CDU-Gruppe-fordert-Kurskorrektur-von-Parteichef-Merz/!6125283
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Gutmair
       
       ## TAGS
       
   DIR Kanzler Merz
   DIR Kolumne Starke Gefühle
   DIR Bundesregierung
   DIR Reden wir darüber
   DIR Social-Auswahl
   DIR Brandmauer
   DIR Die Linke Berlin
   DIR Kolumne Materie
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Stadtbild-Äußerung des Kanzlers: Friedrich Merz wackelt an der Brandmauer
       
       Kanzler Merz und seine CDU wollen sich von der AfD abgrenzen. Doch so lange
       sie Strategie und Rhetorik nicht ändern, kann man das nicht so recht
       glauben.
       
   DIR Bürgergeld-Kampagne der CDU: Die Welt von Friedrich Merz steht Kopf
       
       Die Behauptung des Kanzlers, der Staat finanziere
       Bürgergeld-Empfänger:innen teure Wohnungen, stimmt nicht. Das glatte
       Gegenteil ist der Fall.
       
   DIR Umgang mit NS-Erinnerung: Was der Opa von Friedrich Merz mit der Gegenwart zu tun hat
       
       Der Kanzler will sich offenbar nicht mit der NS-Geschichte seiner Familie
       befassen. Das sagt viel über sein Verständnis von Erinnerungspolitik.