URI: 
       # taz.de -- Kulturboom in der Ukraine: Kosaken und Luftschutzkeller
       
       > In der Ukraine laufen Oper und Theater im Krieg weiter – unter besonderen
       > Bedingungen. Zu Besuch in zwei Spielstätten in Odessa und Mykolajiw.
       
   IMG Bild: Gewaltiger Kronleuchter: der Zuschauerraum des Opernhauses von Odessa
       
       Erster Akt: 31. Oktober, Odessa. [1][Bei Luftalarm] werde das Personal die
       Besucher:innen in den Luftschutzkeller geleiten, verkündet die höfliche
       Lautsprecherstimme gelassen – erst auf Ukrainisch, dann auf Englisch. Falls
       der Alarm weniger als anderthalb Stunden andauern sollte, werde die
       Vorstellung fortgesetzt. Andernfalls würden die Tickets ihre Gültigkeit
       behalten und man könne sie für eine beliebige andere Vorstellung einlösen.
       
       Von der Decke hängt ein gewaltiger Kronleuchter, die Wände glitzern
       goldfarben, Sitze, Logen und Vorhang sind aus weinrotem Samt gefertigt. Der
       im Neorokoko-Stil gehaltene Saal des „Odessaer Nationalen Akademischen
       Theaters für Oper und Ballett“ ist heute zur Premiere von „Der Saporoger an
       der Donau“ nahezu komplett gefüllt.
       
       Bei der [2][Kosaken-Oper] des Komponisten Semjen Hulak-Artemowskyj, der
       auch das Libretto verfasste, handelt es sich um die erste Oper in
       ukrainischer Sprache überhaupt. Die Uraufführung fand 1863 im
       Mariinski-Theater in Sankt Petersburg statt, dann war die Oper im
       Russischen Reich zeitweise verboten.
       
       ## Zerschlagung der Kosaken
       
       Die Handlung basiert auf einem historischen Ereignis: Im Jahr 1775 wurde
       auf Befehl der russischen Zarin Katharina II. die Saporoger Sitsch – die
       Kosakengemeinschaft im Südosten der heutigen Ukraine – aufgelöst. Katharina
       II. war im Übrigen auch die Herrscherin, unter deren Ägide fast zwei
       Jahrzehnte später die Stadt Odessa gegründet wurde.
       
       Im heutigen populären Geschichtsbild in der Ukraine gelten die Saporoger
       Kosaken als Symbol des ukrainischen Freiheitskampfs, die Zerschlagung der
       Kosakengemeinschaft hingegen als imperiale Unterdrückung Moskaus.
       
       Die Oper thematisiert, wie die Kosaken nach der Vertreibung aus ihrer
       Heimat auf der anderen Seite der Donau, im Osmanischen Reich, ein neues
       Zuhause finden. Mit Schmerz und Sehnsucht denken die Exilierten an ihre
       Heimat zurück. Deshalb sucht der Kosakenführer Karas schließlich den Sultan
       auf, um eine Rückkehrerlaubnis zu erbitten.
       
       Die Sänger:innen und Tänzer:innen legen in der klassisch gehaltenen
       Inszenierung ohne jegliche Modernisierungsbestrebungen eine beeindruckende
       Performance an den Tag, die Musik ist eingängig und volkstümlich. Nachdem
       der Sultan den Kosaken die Rückkehr in ihre geliebte Heimat schließlich
       gestattet – ein Happy End also –, folgen hochemotionale Lobgesänge auf die
       Ukraine.
       
       ## Heute kein Luftalarm
       
       Die Ballettänzer:innen führen in Tracht gekleidet eine regelrechte
       „Kosakenparty“ mit teils akrobatischen Sprüngen auf, das Publikum klatscht
       entzückt im Takt mit. [3][An diesem Abend] hat kein einziger Luftalarm die
       Vorführung gestört.
       
       Im Publikum sind auch Deutsche anzutreffen, ehrenamtliche Helfer:innen
       von der Organisation „Ermstal hilft“. Sie haben soeben Feuerwehrwagen in
       die Ukraine gebracht und gönnen sich nun etwas Kultur. Teammitglied und
       Grünen-Politikerin Beate Müller-Gemmeke, von 2009 bis 2025
       Bundestagsabgeordnete, ist begeistert davon, dass es eine solche
       Opernpremiere mitten im Krieg gibt. „Das muss man schon unterstützen, dass
       das Leben weitergeht“, sagt sie der taz.
       
       Die Dolmetscherin der Gruppe, Nataliia Petrenko, ergänzt: „Wir können nicht
       nur auf der Straße sitzen und heulen.“ Die russische Seite wünsche den
       Ukrainer:innen den Tod, aber man gebe nicht auf.
       
       Zweiter Akt: 2. November, Mykolajiw. 130 Kilometer von Odessa entfernt
       liegt das industriell geprägte Mykolajiw, das Zentrum des ukrainischen
       Schiffsbaus. Die Stadt war zu Beginn des Krieges zeitweise von russischen
       Truppen umzingelt, die Wasserversorgung zerstört. Aber man hielt durch. Der
       Direktor des „Akademischen Kunsttheaters Mykolayjiw“ Artem Swystun führt
       die taz durch sein Haus, ein 1881 eröffnetes Theatergebäude im
       neoklassizistischen Stil. Es gebe in der Ukraine gerade einen regelrechten
       Theaterboom, schildert er – als Teil des allgemeinen Kulturbooms in Zeiten,
       da der Kreml die ukrainische Kultur auszulöschen wünsche.
       
       ## Vor dem Krieg wurde Russisch gesprochen
       
       Vor dem großen Krieg war das Theater noch komplett russischsprachig. Auf
       dem Spielplan standen russische sowie internationale Dramenklassiker in
       russischer Sprache. Wie die anderen Teile des ukrainischen Ostens und
       Südens wurde Mykolajiw zu Sowjetzeiten stark russifiziert. Auch jetzt hört
       man auf der Straße vorwiegend Russisch, doch für offizielle Anlässe nutzt
       man inzwischen die Amtssprache: Ukrainisch.
       
       Unter dem alten Direktor habe es bis 2017 im zweiten Stock des
       Theatergebäudes gar eine Filiale von „Russkiy Mir“, der „Russischen Welt“
       gegeben, berichtet Swystun. Dabei handelt es sich um eine von Putin
       gegründete staatliche Stiftung, die weltweit die Kreml-Version der
       russischen Kultur propagieren soll – ein effektives Softpower-Instrument.
       Nun befindet sich dort stattdessen ein Theatermuseum. Eine Ausstellungswand
       ist den Angestellten des Theaters gewidmet, die jetzt in der Armee gegen
       die russischen Invasoren kämpfen.
       
       Da es heute schon fünf Luftalarme gab, wurde die Abendvorstellung von
       Anfang an in den Luftschutzkeller verlegt. In dem kleinen Raum mit grauen
       Betonwänden hat man eine kleine Bühne eingerichtet – sogar mit schwarzem
       Bühnenvorhang.
       
       ## Im Stamm Raketensplitter
       
       Es steht an diesem Tag eine französische Komödie auf dem Programm, „Tout
       payé!“, „Alles ist bezahlt“, von Yves Jamiaque. Die Stimmung ist gelassen.
       Die Zuschauer:innen sind allerdings froh, dass die Luftangriffe dem
       Theaterabend hier in der stickigen, aber gemütlichen „Luftschutz-Bühne“
       nichts anhaben können.
       
       Einmal schon wurde das Theater zum Ziel: Am 22. September 2022 schlug
       nachts eine S-300 Rakete im Hof des Gebäudes ein, wo eine Open-Air-Bühne
       für die warme Jahreszeit eingerichtet ist. Swystun zeigt auf einen Baum, im
       Stamm steckt immer noch ein Raketensplitter.
       
       Obwohl das Geschoss glücklicherweise das Gebäude selbst verfehlte, war der
       Schaden enorm: Fenster, Wände und Spiegel zerbrachen, Möbel, Computer,
       Nähmaschinen wurden zerstört, Kostüme beschädigt. Eine im Hof aufgestellte
       Bacchus-Skulptur verlor beide Arme. In diesem Zustand steht sie noch heute
       da, als Mahnmal des Krieges.
       
       9 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Die-Zerstoerung-Odessas/!5951532
   DIR [2] /1335-Tage-Krieg-in-der-Ukraine/!6121270
   DIR [3] /Krieg-in-der-Ukraine/!6126065
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Yelizaveta Landenberger
       
       ## TAGS
       
   DIR Ukraine
   DIR Oper
   DIR Russland
   DIR Bombendrohung
   DIR Alltagsleben
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Ukraine
   DIR Kolumne über leben
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Trump macht für Freund Orbán eine Ausnahme
       
       Die US-Sanktionen gegen russische Energiekonzerne können auch Käufer von Öl
       und Gas treffen. Doch für Ungarn soll das nicht gelten. In der Ukraine
       wurde ein Auto mit Journalisten von einer Drohne attackiert.
       
   DIR Ukrainisches Filmfestival: Und doch geht das Leben weiter
       
       Das ukrainische Filmfestival eröffnete in Berlin mit einem bewegenden
       Dokumentarfilm „Songs of Slow Burning Earth“ über das Leben im Krieg.
       
   DIR 1.335 Tage Krieg in der Ukraine: Wie sich die Ukrainer ihre Geschichte zurückholen
       
       Nicht erst seit Kriegsbeginn ist das Interesse an historischen Themen stark
       gewachsen. Ein Youtube-Kanal klärt über südukrainische Geschichte auf.
       
   DIR Ukrainischer Kulturminister über Krieg: „Es geht um den Bestand des Westens, wie wir ihn kennen“
       
       Mykola Tochytsky war lange ukrainischer Außenpolitiker. Hier spricht er
       über Putin-Appeasement, Wiederaufbau und fehlende USAID-Gelder.