# taz.de -- Erinnerungskultur zur DDR im Wandel: „Die einseitige Erzählung war lange die offizielle“
> Wie Popkultur hilft, 1989 vielfältiger zu erzählen. Die Historikerin Anna
> Lux über Erinnerung, Utopieverluste und das eine Bild des Ostens.
IMG Bild: Symbol der „Baseballschlägerjahre“: Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen
taz: Frau Lux, der Publizist Dirk Oschmann bezeichnet den „Osten“ als
„westdeutsche Erfindung“. Wie bewerten Sie diese These?
Anna Lux: Diese Sichtweise ist zwar berechtigt, greift jedoch zu kurz. Um
diese Deutung zu verstehen, muss man wissen, dass im offiziellen Erinnern
an 1989/90 lange Zeit das Narrativ der Friedlichen Revolution vorherrschte,
eine einseitige Erzählung, die viele Leerstellen lässt.
taz: War das auch Ihr Anliegen des Buches „Neon/Grau“?
Lux: Ja, uns geht es darum zu sagen, dass es diese beiden Großerzählungen
gibt: die Meistererzählung und die Gegenerzählung. Die Erfahrungen mit dem
Umbruch gehen darin aber nicht auf. Und für den Diskurs sind diese Pole
auch unproduktiv. Unser Anliegen ist es, den vielen Erzählungen dazwischen
nachzugehen – und zwar mit Popkultur. Dabei wird deutlich, dass die
Erzählung über die Degradierungserfahrungen im Osten nicht die Einzige ist.
Sie muss eingebunden werden in das, was wir als Umbruchgedächtnis
bezeichnen. Wir denken, dass die Erzählungen in ihrer Pluralität und
Vielstimmigkeit Teil des öffentlichen Diskurses über den Osten werden
müssen.
taz: Sie schreiben, dass sich ab 1989 in der Erinnerungskultur ein sehr
einseitiges Bild etabliert hat.
Lux: Die einseitige Erzählung war lange die offizielle Erzählung. Und
gleichzeitig gab es immer auch die Erfahrungsgeschichten in den Familien,
die davon abwichen. Schauen wir auf die Wochen vor dem Sturz der Mauer,
dann war die [1][Wiedervereinigung] da noch gar kein Thema. Vielmehr ging
es um andere Zukunftsvorstellungen, einen reformierten Sozialismus, die
Vorstellung von einer besseren DDR. Mit dem Mauerfall, spätestens mit den
Wahlen vom März 1990 war die Utopie passé und wurde von der Realität des
Marktes, von der Aussicht auf „blühende Landschaften“, auf eine schnelle
Wiedervereinigung ersetzt. Was danach kam, Stichwort Transformation,
erlebten viele Menschen im Osten als Ernüchterung oder
Orientierungslosigkeit.
taz: Was hat sich daran geändert?
Lux: In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass die Geschichte von
1989/90 multiperspektivisch erzählt werden muss. Dass Utopie und
Utopieverlust dazugehören. Aber auch die Geschichte der Vertragsarbeiter,
die aus anderen Ländern in die DDR kamen und nach dem Umbruch oft vergessen
wurden. Vertragsarbeiter waren ausländische Arbeitskräfte, die zur Behebung
des Arbeitskräftemangels in die DDR geholt wurden. Mit Blick auf ihre
Geschichte wird bewusst, wer sich damals eigentlich wiedervereinigt hat –
und wer in diesem Prozess im eigenen Land fremd wurde und auf der Strecke
blieb.
taz: Kann Kultur diese Widersprüchlichkeit auflösen?
Lux: Nicht auflösen, aber sichtbar und verstehbar machen. Popkultur kann
viel beitragen, da sie Bilder und eine eigene Sprache bietet. Sie schafft
Zugänge, wo Politik oder Wissenschaft abstrakt bleiben. Kultur kann
Deutungsangebote machen und damit Räume öffnen, in denen wir über unsere
Geschichte ins Gespräch kommen. 36 Jahre nach 1989 ist es an der Zeit,
diese Komplexität auszuhalten und anders zu erzählen.
taz: Sie beschreiben die „[2][Baseballschlägerjahre]“ als Resultat einer
Gesellschaft, die Freiheit, aber wenig Orientierung erhielt. Sehen Sie
Parallelen zwischen damals und heute?
Lux: Ja, etwa in der [3][Zunahme rechter Gewalt] und darin, dass es für
manche Jugendliche wieder attraktiv ist, rechts zu sein. Zugleich waren die
90er eine ganz besondere historische Situation, geprägt vom Zusammenbruch
einer ganzen Gesellschaftsordnung. Wenn wir auf Parallelen schauen, sollten
wir fragen: Was sollten wir heute anders machen müssen. Nämlich: intensive
Jugend- und Bildungsarbeit, [4][Demokratieförderung] und Biografiearbeit,
also die Auseinandersetzung mit den eigenen Prägungen und Erfahrungen in
der DDR und danach. Popkultur kann da eine wichtige Brücke sein.
28 Oct 2025
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## AUTOREN
DIR Finn Sünkler
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