# taz.de -- Linken-Abgeordnete zur Bürgergeld-Reform: „Wer Arme gegeneinander ausspielt, schützt Reiche vor Kritik“
> Cansın Köktürk findet die Regierungspläne „menschenverachtend“. Als
> Sozialarbeiterin habe sie erlebt: Sanktionen helfen niemandem auf die
> Beine.
IMG Bild: Cansin Köktürk auf dem Weg zur 21. Bundestagssitzung am 11. September
taz: Frau Köktürk, die Reformpläne fürs Bürgergeld werden konkret. Ein
Gesetzesentwurf der Regierung [1][wurde letzte Woche öffentlich]. Wenn Sie
einen Paragrafen daraus ändern könnten: Welcher wäre es?
Cansın Köktürk: Ich würde den kompletten Gesetzesentwurf ändern. Er
verstößt gegen das Grundgesetz und die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts. Das Sozialstaatsprinzip ist im Grundgesetz als
Staatsziel verankert, der Gesetzgeber muss sich also um die soziale
Sicherheit der Bürger kümmern. Die Merz-Regierung greift mit ihren
Sanktionsplänen aber das Existenzminimum an. Es ist auch beschämend, dass
groß mit Sparplänen geworben wurde, obwohl sich herausstellt, dass kaum
etwas eingespart wird. In Wahrheit geht es um Macht und darum, Stimmung
gegen die Schwächsten zu machen, um von den echten Problemen in unserer
Gesellschaft abzulenken.
taz: Zu den Sanktion ist in der sogenannten Neuen Grundsicherung unter
anderem vorgesehen, dass keine Zahlungen mehr erhält, [2][wer mehrmals
hintereinander Termine im Jobcenter verpasst]. Nach Ansicht des
Sozialministeriums von Bärbel Bas ist das verfassungsrechtlich zulässig.
Köktürk: Bas argumentiert: Wer mitmacht, hat nichts zu befürchten. Die
Realität ist aber anders. Wenn jemand einen Termin nicht wahrnimmt, hat das
nicht zwangsläufig etwas damit zu tun, dass er faul ist. Oft können
Menschen wegen Erkrankungen nicht kommen oder weil Betreuungsplätze für
ihre Kinder fehlen. Die neuen Regeln werden dazu führen, dass diese
Menschen noch tiefer in die Armut rutschen – und sogar in die
Obdachlosigkeit, weil auch die Miete von den Sanktionen betroffen ist.
taz: Die Miete soll aber erst im letzten Schritt gestrichen werden. Kann
der Staat nicht von Leistungsempfänger*innen erwarten, innerhalb
mehrere Monate zumindest einmal im Jobcenter aufzutauchen?
Köktürk: Ich habe zehn Jahre lang als Sozialarbeiterin gearbeitet und habe
Menschen erlebt, die es wirklich nicht schaffen, zum Jobcenter zu gehen.
Ihre Briefkästen laufen über und sie sind mit der ganzen Bürokratie
überfordert. Eine zusätzliche Hürde ist dann die institutionelle
Diskriminierung in den Jobcentern, in denen leider oft mit einem
herabwürdigenden Ton gearbeitet wird. Das ist keine Motivation zur Arbeit,
sondern Ausgrenzung und Demütigung.
taz: Im Gesetzesentwurf ist doch von Härtefallregelungen bei den Sanktionen
die Rede – und von besonderer Rücksicht auf psychisch Kranke.
Köktürk: Das ist richtig. Die Frage ist aber, wie die Regierung
gewährleisten will, dass die Jobcenter das auch wirklich beachten. Bekommen
sie eine klare Handlungsgrundlage oder wird es eine Ermessensentscheidung?
Wird endlich sichergestellt, dass eingereichte Atteste nicht mehr plötzlich
verschwinden? Hat es am Ende vor allem damit zu tun, welchen Sachbearbeiter
man erwischt? Ob er gewillt ist, genau hinzuschauen? Und ob er die Zeit hat
dafür? Die Jobcenter sind ja schon jetzt unterbesetzt.
taz: Das Ministerium beruft sich bei seinen Plänen selbst auf
[3][Rückmeldungen aus den Jobcentern]. Das Personal habe bisher „praktisch
kaum Handhabe bei hartnäckiger Terminverweigerung“.
Köktürk: Studien zeigen, dass Sanktionen keine nachhaltige Rückkehr in den
Arbeitsmarkt fördern, sondern eher Betroffene noch weiter in existenzielle
Not und psychische Belastungen stürzen. Überhaupt wird die Debatte falsch
geführt: Wir tun so, als wären die meisten Menschen im Bürgergeldbezug
Totalverweigerer. Wir kriminalisieren arme Menschen und stellen sie unter
Generalverdacht. Über die wirklich entscheidenden Punkte sprechen wir aber
nicht.
taz: Welche wären das denn?
Köktürk: Wir reden nicht darüber, warum Menschen überhaupt im Bürgergeld
landen. Nicht individuelles Versagen ist das Problem, sondern politische
Entscheidungen. Wir reden nicht über strukturelle Ursachen wie prekäre
Löhne, unsichere Jobs, mentale Gesundheit oder langfristige
Arbeitsvermittlung. Die Jobcenter haben zum Beispiel nicht genügend Geld
für die Arbeitsvermittlung. Der Bedarf ist höher als das, was die
Bundesregierung zu investieren bereit ist. Aber dann will sie Menschen
bestrafen, die unpassende Jobangebote ablehnen.
taz: Wer ein Stellenangebot ablehnt, soll laut dem Gesetzesentwurf
ebenfalls den kompletten Regelsatz verlieren – und zwar sofort, nicht erst
im Wiederholungsfall.
Köktürk: Es ist völlig legitim, eine Stelle abzulehnen, die nicht in die
Lebensumstände passt. Ich kenne aus meiner Praxis Fälle, in denen Angebote
wegen Erkrankungen oder persönlichen Umständen ausgeschlagen wurden. Statt
Strafen bräuchte es eine bedarfsgerechtere Betreuung und auch mehr
Investitionen in soziale Arbeit und in Personal in den Jobcentern. Damit
könnte man unfassbar viele Türen öffnen. Wenn sich Menschen gesehen und
gehört fühlen, nehmen sie ihr Leben eher wieder in die Hand.
taz: Wo kann eine Sozialarbeiterin konkret ansetzen, wenn jemand nicht ins
Jobcenter kommt und keine Arbeit annehmen will?
Köktürk: Es kommt auf den Einzelfall an. Grundsätzlich fragt man erst mal,
was der Mensch möchte und welche Ressourcen er überhaupt mitbringt. Niemand
kennt ein Leben besser als der Mensch, der es lebt. Dann kann man gemeinsam
Angebote durchschauen und zusammen eine Bewerbung schreiben. Ich habe in
den zehn Jahren als Sozialarbeiterin etliche Menschen in Arbeit vermittelt,
Jugendliche in Ausbildung vermittelt, Menschen in Wohnungen vermittelt. Was
soziale Arbeit leisten kann, sollte viel mehr Beachtung finden.
taz: Sie sagen, dass die große Mehrheit einfach nur Hilfe braucht. Was ist
aber mit denjenigen, die wirklich nicht arbeiten möchten und dafür keinen
guten Grund haben? Braucht der Staat ihnen gegenüber denn gar keine
Druckmittel?
Köktürk: Man kann tatsächlich nicht in jedem Fall helfen. Es gibt Menschen,
die man nicht mehr erreicht. Aber auch das hat Gründe. Und deshalb bin ich
überzeugt, dass Bestrafung nicht der richtige Weg ist. Niemand zieht sich
aus der Gesellschaft zurück, weil er unfassbar glücklich ist. Jeder Mensch
hat ein Recht auf ein würdiges Leben. Es ist nicht nur verfassungswidrig,
wenn die Regierung das Existenzminimum angreift. Es ist auch moralisch
nicht tragbar, Menschen nach ihrem Nutzen einzustufen.
taz: In Umfragen gibt es aber eine Mehrheit für schärfere Regeln und die
Regierung argumentiert: Wenn wir diesem Mehrheitswillen nicht nachkommen,
ist die Akzeptanz für den Sozialstaat insgesamt in Gefahr. Ist da nicht
etwas dran?
Köktürk: Seit Jahrzehnten erzählen uns Politiker und Medien das gleiche
Märchen: Armut sei selbstverschuldet, der Sozialstaat sei zu teuer und die
Menschen bräuchten Anreize, um arbeiten zu gehen. Diese neoliberale
Erzählung hat sich tief in die Köpfe eingeschlichen und lenkt von den
wahren Ursachen sozialer Ungleichheit ab: ungleiche Vermögens- und
Einkommensverteilung, ungleiche Bildungschancen, Reichtumskonzentration.
Wenn dann noch Krisen dazukommen, richtet sich die Wut der Menschen nicht
nach oben, sondern nach unten. Das ist politisch gewollt: Wer Arme
gegeneinander ausspielt, schützt die Reichen vor Kritik. Niemand spricht
über die Verantwortungslosigkeit der Überreichen.
taz: Die Regierung plant nicht nur Verschärfungen bei den Sanktionen,
sondern auch bei den Wohnkosten. Das Jobcenter soll Mietkosten in
bestimmten Fällen nicht mehr im gleichen Umfang erstatten wie bisher. Das
finden Sie wahrscheinlich auch falsch?
Köktürk: Auch das ist menschenverachtend. Die Situation ist jetzt schon
schwierig, vor allem, weil Sozialwohnungen fehlen. Ich habe lange eine
Notunterkunft geleitet. Dort sind sogar Menschen im hohen Alter gelandet.
Eine Containerunterkunft mit Gemeinschaftstoiletten – Sie können sich
vorstellen, wie sich der gesundheitlich Zustand dieser Leute Tag für Tag
verschlechtert hat. Aber das Sozialamt hat gesagt: Wir haben keine Wohnung,
in die wir sie reinvermitteln können. Entsprechend gibt es auch für
Menschen im Bürgergeld nicht genügend passende Wohnungen und sie müssen
Mieten zahlen, die das Jobcenter dann nicht übernimmt.
taz: Schwarz-Rot will zudem das Schonvermögen absenken, das Menschen trotz
Bürgergeld behalten dürfen. Wie wird sich das in der Praxis auswirken?
Köktürk: Das ist aus meiner Sicht kein Thema in dem Kontext. Die meisten
Menschen, um die es hier geht, können sowieso nichts beiseite legen.
taz: Gibt es denn auch irgendetwas im Gesetzesentwurf, das Sie richtig
finden?
Köktürk: Nein. Ich sehe in dem Entwurf nicht, wie Armut bekämpft wird. Ich
sehe nicht, dass der Regelsatz für ein menschenwürdiges Leben reicht. Ich
sehe keine Lösung dafür, Menschen aus dem Bürgergeld zu holen. Es ist
lediglich ein Angriff auf die Menschenwürde.
taz: Der Zugang zu geförderter Beschäftigung soll einfacher werden und in
den Jobcentern soll Gesundheitsberatung eine größere Rolle spielen. Ist das
denn nichts?
Köktürk: Auf dem Papier ist das toll, aber in der Realität sieht es anders
aus, denn auch dafür bräuchte es Geld und Personal. Die Investitionen kann
ich bisher nicht sehen.
taz: Was ist Ihr Eindruck, wie die Debatte bei denjenigen ankommt, die es
direkt betrifft?
Köktürk: Ich bin noch in Kontakt mit vielen Familien, die ich früher
betreut habe. Sie machen sich alle sehr große Sorgen vor der Zukunft. Auch
in E-Mails an mein Büro wird das deutlich. Wenn ständig verächtlich über
Menschen gesprochen wird, die täglich ums Überleben kämpfen, dann braucht
man sich nicht wundern, wenn sie wirklich zerbrechen. In der Notunterkunft,
die ich geleitet habe, gab es mehrere Suizide. Ich erinnere mich noch genau
an den Moment, in dem ich vom ersten Suizid erfahren habe. Da habe ich
verstanden, was es heißt, wenn Menschen nur nach ihrem Nutzen kategorisiert
werden – ohne ihre Geschichte zu sehen und ohne Raum für Emotionen. Ich
empfehle der Bundesregierung ein Praktikum in der Sozialen Arbeit. Wer
echte Sicherheit und Veränderung will, muss mit den Betroffenen reden und
nicht über sie.
28 Oct 2025
## LINKS
DIR [1] https://tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/archiv/vorentwurf-des-referentenentwurfs-zu-den-geplanten-sgb-ii-aenderungen.html
DIR [2] /Reform-des-Buergergelds/!6121395
DIR [3] /Reformen-in-der-Sozialpolitik/!6116355
## AUTOREN
DIR Tobias Schulze
## TAGS
DIR Bürgergeld
DIR Die Linke
DIR Sozialarbeit
DIR Schwerpunkt Armut
DIR GNS
DIR Bürgergeld
DIR Wirtschaftswachstum
DIR Kanzler Merz
DIR SPD
DIR Haushaltsdefizit
DIR Bürgergeld
DIR Bürgergeld
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR „Arbeitspflicht“ für junge Arbeitslose: Wenn um 7 Uhr morgens das Ordnungsamt klingelt
Der Landkreis Nordhausen will junge Bürgergeld-Empfänger in 1-Euro-Jobs
zwingen. Er reizt damit eine Option aus, die die Ampel geschaffen hat.
DIR Ökonomin zur Lage in Deutschland: „Ohne Wachstum geht's schneller Richtung Autoritarismus“
Dass Deutschlands Wirtschaft schwächelt, bedroht die Demokratie, sagt die
Ökonomin Nicola Fuchs-Schündeln – und macht Vorschläge.
DIR Die SPD und die Bürgergeldreform: Eine Giftpille für die Sozialdemokratie
Dass die SPD so tut, als wäre das Bürgergeld ein Irrtum, ist unredlich.
Genau so nährt sie den Verdacht, eine opportunistische Staatspartei zu
sein.
DIR Verschärfungen beim Bürgergeld: Ein Grummeln geht durch die Basis der SPD
Politiker*innen fordern, das Bürgergeld nicht zu verschärfen. Die
Initiatorin eines Mitgliederbegehrens erinnert die SPD an ihre Werte.
DIR Soziale Gerechtigkeit: Mehr Anreize für Privatiers
872.000 Deutsche gehen keiner geregelten Erwerbsarbeit nach. Es wird Zeit
für eine bessere Arbeitsvermittlung und Leistungsentzug für Verweigerer.
DIR Bürgergeld: Fast jede dritte Sanktion trifft ein Kind
Erschreckende Zahlen der Bundesagentur für Arbeit: In einem Drittel der
sanktionierten Haushalte leben Kinder. Die Bundesregierung plant trotzdem
weitere Verschärfungen.
DIR Forscher zu Bürgergeld-Sanktionen: „Verweigern Personen Arbeit, kann es gute Gründe dafür geben“
Der Koalitionsausschuss hat über härtere Bürgergeld-Sanktionen entschieden.
Schon die Ampel hatte sie für „Totalverweigerer“ verschärft. Was hat es
bewirkt?