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       # taz.de -- Wiedergefundener Roman über die NS-Zeit: Mopsas unbedingte Schwere
       
       > 19 Jahre lang hat Dorothea Sternheim an ihrem Roman über die NS-Zeit
       > gearbeitet. 70 Jahre nach Vollendung ist „Im Zeichen der Spinne“ nun
       > erschienen.
       
   IMG Bild: Die Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach war eng mit Mopsa Sternheim befreundet
       
       Wenn Christopher zu Ende gespielt hat, er spielt schön, etwas von Chopin
       vielleicht, dann setzt er sich mit der erschöpften Vivian an das
       Radiogerät, jeden Abend um Punkt Neun, in ihrem Exil im britischen Badeort
       Brighton: Im Roman „Im Zeichen der Spinne“ – mit dem Zeichen ist das
       Hakenkreuz gemeint – sind die Nachrichten aus dem Deutschen Reich stets
       niederschmetternd. Wie kann es sein, dass die Menschen nicht merken, wie
       sie betrogen werden? Warum erkennen sie nicht, welchem Unglück sie
       zugestimmt haben?
       
       Autorin dieses wiedergefundenen Romans ist die 1905 in Oberkassel bei
       Düsseldorf geborene Dorothea Sternheim, Kosename Mopsa. Den hatte ihr
       [1][die Mutter Thea] verpasst, selbst Autorin eines Romans, einer
       Autobiografie und vor allem eines über 70 Jahre geführten Tagebuchs, das
       neben denen von Julien Green oder Ernst Jünger zu den bedeutenden Journaux
       Intimes des 20. Jahrhunderts zählt. Mopsas Vater wiederum war Carl
       Sternheim, [2][dessen bissige Komödien] in der Weimarer Republik landauf,
       landab gespielt werden. Die Familienverhältnisse sind und bleiben
       verworren, sind übergriffig dazu. Eng befreundet ist Mopsa Sternheim mit
       Annemarie Schwarzenbach, mit den Geschwistern Erika und Klaus Mann, ebenso
       mit Pamela Wedekind, die später Mopsas Vater heiraten wird.
       
       Lebensprägend ihre Begegnung mit Gottfried Benn: Für den fast 40-jährigen
       damaligen Literaturgott ist es eine Affäre unter vielen. Für die 21-Jährige
       ist es die Liebe ihres Lebens. Im Roman begegnet uns ein Dr. Goll, von dem
       Heldin Vivian bald alles gelesen hat, besonders dessen ungestüme Lyrik.
       Überhaupt mangelt es nicht an Verweisen auf die Boheme-Welt jener Tage. Oft
       finden wir uns in Berlin-Charlottenburg, in Berlin-Schöneberg wieder; man
       trifft sich im Kleist-Kasino in der Kleiststraße.
       
       Doch die Novemberrevolution ist mehr als lange her, keine Regierung hält,
       die Nazis etablieren sich. Besser man geht, und der Weg ist noch lang.
       Manchmal wirkt der Text wie ein Slow-Remix des Serienhits „Babylon Berlin“;
       dann wieder sitzt man in einem Seminar über den frühen literarischen
       Expressionismus, und jedes Mal ist der Vergleich so hilf- wie nutzlos.
       Zugleich wird man oft in eine Pathos-Sprachwelt geworfen, die historisch
       alle Berechtigung hat, doch die heute zuweilen fremd und rätselhaft wirkt:
       „Weit draussen türmen sich haushoch die Wellen, überklettern einander,
       besteigen sich wie brünstige Tiere. Schäumendes Gekröse zerfliesst an der
       Dünung, rieselt langsam zurück.“ Es gibt keinen Alltag, alles ist
       existentiell. Immer geht es ums Ganze. Am Tage und noch mehr in der Nacht.
       
       ## Tapfer dagegen anschreiben
       
       Für diese Unbedingheit, auch für die Schwere, gibt es gute Gründe. Ebenso
       dafür, dass Mopsa Sternheim ab 1935 bis zu ihrem Tod im Herbst 1954 immer
       wieder an ihrem einzigen Roman arbeitet: Über den Niedergang der Weimarer
       Republik will sie berichten; über den Zusammenbruch besonders der
       intellektuellen Welt. Dabei sind ihr die Fallstricke ihres Unterfangens
       bewusst. So notiert sie im April 1942 und vor ihrer Verschleppung ins KZ
       Ravensbrück in ihr Tagebuch: „Als Erstlingswerk gleich die Vision einer
       Epoche unter deren Räder gerade alle unsere Glieder krachen.“
       
       Sie konstatiert: „Mein Buch ist zu konstruiert, zu gewusst. Und kitschig,
       pathetisch immer, oft solennel“, also feierlich im Sinne von theatralisch.
       Und sie bekennt: „Wenn das Thema nicht so maasslos schwer wäre – ich habe
       mich übernommen.“ Doch sie schreibt tapfer dagegen an, auch nach ihrer
       Befreiung im April 1945 im Rahmen der Schwedischen „Aktion Bernadotte“; sie
       gibt den Stoff nicht auf, gibt ihn nicht her.
       
       Und es bleibt wild, auch nach ihrem Tod im September 1954 in Paris. Hat sie
       doch dem jungen Kunsthistoriker Gert Schiff einen Koffer mit ihrem
       Manuskript vererbt. Der schickt im Winter 1955 eine Fassung an den Rowohlt
       Verlag – interessant, auch gekonnt, nur viel zu fragmentarisch, lautet die
       Antwort. Was auch eine Ausrede gewesen sein dürfte: Wer will damals einen
       Roman über die NS-Zeit lesen und vorher kaufen? Schiff geht später in die
       USA, wird Kunstprofessor, in seinem New Yorker Apartment wartet der Koffer,
       er hat anderes zu tun.
       
       Als er 1990 stirbt, erbt den Koffer seine noch in Oldenburg lebende Mutter.
       Später steht er bei einer Freundin der Familie jahrzehntelang herum. Bis er
       2015 als Depositum der Landesbibliothek Oldenburg übergeben wird: „Ich bin
       ob des Namens ‚Sternheim‘ hellhörig geworden“, sagt der damalige
       Bibliotheksleiter Rudolf Fietz heute. Er verspricht seinerzeit, sich um den
       Inhalt zu kümmern, wenn er in Pension gehe. Schon schräg, dass das
       Lebenswerk einer so radikalen Künstlerin auf den Ruhestand eines
       niedersächsischen Landesbediensteten warten hat müssen. Andererseits: Es
       kommt ja nun auch nicht mehr drauf an.
       
       Entscheidend ist, dass Fietz sich zusammen mit seiner Frau Gisela Niemöller
       unerschrocken ab 2023 auf die Hunderte von ungeordneten, teilweise
       überschriebenen Seiten wirft, sie eine Romanfassung wagen. Nun ist er in
       der Welt, der eine einzige Mopsa-Sternheim-Roman. Und die erste Auflage war
       im Nu weg. „Es ist nicht einfach, diesen Roman neutral zu lesen“, sagt
       Rudolf Fietz noch.
       
       Und womöglich ist es das, was zählt: Das Schwierige, das Widerspenstige,
       das Dramatisch-Persönliche, man wird es nicht los, man bekommt es nicht in
       den Griff, es arbeitet weiter, ganz eigen und gut.
       
       14 Nov 2025
       
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