# taz.de -- Migrationsdebatten: Deutschland, dein Stadtbild
> Mit einem Satz entfacht Kanzler Merz eine Debatte. Und erinnert Ibrahim
> Arslan an düstere Zeiten, die nie wirklich vorbei waren. Was er
> dagegenhält.
IMG Bild: „Und pass ich hier rein?“, fragt Ibrahim Arslan in Möllns Fachwerkidylle. 1992 ermordeten Neonazis drei seiner Familienmitglieder
Es ist ein grauer Vormittag in Mölln. Das Kopfsteinpflaster glänzt nass vom
Regen, der Wind pfeift durch die Mühlenstraße. Sonst ist es still. Alles
wirkt friedlich. Eine kleine Stadt, saubere Fassaden. Vor einem Fenster
hängt eine durchnässte Deutschlandfahne. Nur einige Meter entfernt brannte
in der Nacht vom 23. November 1992 ein Haus. Ibrahim Arslan war sieben
Jahre alt, [1][als zwei Neonazis Molotowcocktails durch das Fenster
warfen.] Seine Großmutter Bahide Arslan, seine Cousine Ayşe, seine
Schwester Yeliz – sie starben im Feuer. Er selbst überlebte, auch weitere
Familienmitglieder.
Nach dem Anschlag wollte Mölln schnell weitermachen: keine Schlagzeilen
mehr, kein Streit, keine Schuld. Doch für Familie Arslan war ein
Weiterleben hier unmöglich. „Wir wurden angesehen wie Schandflecke, nicht
wie Betroffene“, sagt er. Nach der Tat habe man sie gemieden. Auf der
Straße blieben Blicke aus, in der Schule wurde geschwiegen, Nachbarn
wechselten die Straßenseite. „Wir waren immer nur die aus dem brennenden
Haus“, sagt er. Für die Familie gab es kaum eine Wahl: Entweder zurück in
die Türkei oder fort aus Mölln. Im Jahr 2000 zogen sie in eine deutsche
Großstadt. Dort lebt Arslan bis heute.
Der Wind wird stärker. Er blickt auf die nasse Straße, als suche er nach
Spuren, die längst verschwunden sind. „Der Geist der 90er Jahre kehrt
förmlich zurück““, sagt er schließlich. „Nur verändert. Und heute ist es
gefährlicher.“
Seit Mitte Oktober läuft die Debatte darum wieder heiß, wer zu Deutschland
gehört und wer nicht. Wer hier willkommen ist und wer nicht. Und wer sich
hier sicher fühlen darf, oder eben nicht. [2][Erneut entfacht hatte sie
Bundeskanzler Friedrich Merz] bei einem Termin am 14. Oktober in Potsdam,
als er sagte: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses
Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in
sehr großem Umfang Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen“. Was mit
einem vagen Satz des Kanzlers begann, ist in wenigen Tagen zu einem
wirkmächtigen Schlagwort geworden. „Das Stadtbild“: zwei Worte, die durch
Talkshows und Kommentarspalten geistern, als wären sie neu erfunden.
Was mit einem Satz des Kanzlers begann – vage, aber wirkmächtig –, ist in
wenigen Tagen zu einem Schlagwort geworden. „Das Stadtbild“: zwei Worte,
die durch Talkshows und Kommentarspalten geistern, als wären sie neu
erfunden. „Das ist dieselbe Sprache wie damals“, sagt Arslan. Der Spiegel
titelte damals: Das Boot ist voll – eine Schlagzeile, die zur Mentalität
wurde. „Und kurz darauf brannten Häuser.“ Als nach dem Anschlag von Mölln
gefragt wurde, warum Helmut Kohl nicht zu den Trauerfeiern fahre, ließ sein
Sprecher mitteilen, der Kanzler habe „wichtige Termine“ – und die
Bundesregierung wolle nicht „in einen Beileidstourismus verfallen“. Worte,
die blieben.
Arslan spricht ruhig, fast sachlich, während er die Ratzeburger Straße
hinuntergeht. Auch hier wurde 1992 ein Haus angezündet – in derselben Nacht
wie das der Arslans, ebenfalls bewohnt von einer Migrant:innenfamilie.
Niemand starb. Die Tat verschwand aus den Schlagzeilen als wäre sie nie
geschehen. „Schließlich gab’s ja keine Toten“, sagt Arslan sarkastisch. Er
bleibt kurz stehen, schaut auf den grauen Parkplatz, der heute an dieser
Stelle liegt – leer, und ohne jeden Hinweis darauf, welches Unrecht hier
einst geschah. Dann sagt er leise: „Auch das ist Teil des problematischen
Stadtbilds – nur spricht keiner darüber.“
Wenn Arslan von den Neunzigern spricht, meint er die Jahre, in denen auch
Asylbewerberheime in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda brannten – eine
Zeit, in der rechte Gewalt Alltag war und viele wegschauten. Er läuft durch
den Kurpark, der direkt hinter dem Haus beginnt. Ein großer, stiller
Grünstreifen, den Möllner:innen zum Spazieren nutzen. Die Steine des
geschotterten Weges knirschen unter seinen Schuhen. Der Wind rauscht durch
die kahlen Bäume. „Typisch Mölln“, sagt er und lacht. „Hier ist nie gutes
Wetter.“ Doch schnell wird er wieder ernst.
Er sagt, die Gewalt der Neunziger habe nie aufgehört – sie sei kein
Kapitel, das Deutschland wirklich hinter sich lassen konnte. „Die Haltung
ist geblieben“, sagt er, nur äußere sie sich immer wieder „in neuen Worten,
neuen Gesichtern“. Nach Mölln kam Solingen. Nach Solingen Hanau, Halle, der
Mord an Walter Lübcke, Anschläge auf Dönerläden, Synagogen und Shisha-Bars.
Bundeskanzler Merz erklärte kurz nach seiner Stadtbild-Aussage bei einem
Termin in London, er habe „nicht alle Migrant:innen“ gemeint, sondern nur
jene, die „keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben und sich nicht an
unsere Regeln halten“.
Arslan blickt die Straße hinunter, auf die Häuserzeilen, die Regenrinnen,
die vertraute Fassade. „Ich soll nicht das Stadtbild sein?“, fragt er
schließlich. Merz’ Rechtfertigung klingt für Arslan wie eine altbekannte
Unterscheidung – zwischen den „guten“ und den „anderen“. Für ihn aber ist
die Frage nach dem „Stadtbild“ eng mit seiner Familiengeschichte verbunden.
Seine ermordete Großmutter, Bahide Arslan, kam 1967 als sogenannte
Gastarbeiter:in nach Deutschland – nicht nur, um zu arbeiten. Sie
wollte bleiben, ein Zuhause finden, ihre Kinder hier großziehen. In Mölln
eröffnete Sie den ersten türkischen Lebensmittelladen, später einen
deutschen Imbiss – Frikadellen, Kartoffelsalat, Bratwurst. Die Nachbarn
kamen zum Essen, zum Reden, zum Kaffee. „Sie war Teil dieses Ortes, lange
bevor jemand von Integration gesprochen hat“, sagt Ibrahim Arslan.
Er geht ein paar Schritte die Straße hinunter, entlang einiger
Fachwerkhäuser. Eine Frau im Regenponcho und mit Einkaufstasche huscht
vorbei, senkt den Blick, nickt flüchtig. „Das Stadtbild, das Merz meint,
sind wir“, sagt er. „Nur sieht er uns nicht als Teil davon, sondern als
Störung.“ Arslan lacht kurz, trocken. „Meine Großmutter, meine Familie, all
die, die hierher kamen, um hier zu leben und nicht nur zu schuften. Ohne
sie gäbe es diese Straßen, diese Läden, dieses Land in dieser Form gar
nicht.“
Er spricht von den Menschen, die in den 1960er und 1970er Jahren aus allen
möglichen Ländern, vor allem aber aus der Türkei und Italien nach
Deutschland gerufen wurden – die Häuser bauten, in Werkhallen schufteten,
das Land am Laufen hielten und blieben, obwohl sie nie wirklich willkommen
waren. Leute, die das deutsche Stadtbild über Jahrzehnte geprägt haben,
über das heute so so feindselig diskutiert wird.
Arslan glaubt, dass die Bedrohung heute tiefer sitzt, breiter wirkt als in
den Neunzigern. „Heute ist es gefährlicher – nicht, weil mehr Häuser
brennen, sondern weil der Hass leiser geworden ist, aber intensiver und
alltäglicher.“
1992 zählten die Behörden mehrere tausend rechtsextreme Gewalttaten. Laut
Verfassungsschutz wurden seit 1990 über 80 Menschen durch rechte Gewalt
getötet. 2024 registrierten die Behörden 37.835 rechtsextremistische
Straftaten – fast 50 Prozent mehr als im Jahr davor. [3][Auch die Zahl
derer, die dem rechtsextremen Spektrum zugerechnet werden, steigt]: über
50.000 Menschen bundesweit.
Zudem sei früher klarer gewesen, „wer Täter war und wer Opfer“, sagt
Arslan. „Damals hieß es: Kanake oder Nazi. Heute ist es komplexer und
undurchsichtiger.“ Früher haben sich Neonazis und Menschen mit
internationaler Familiengeschichte gegenüber gestanden. Heute verlaufen
würden die Linien quer durch die Gesellschaft – und manchmal auch durch die
Minderheiten selbst.
Gefährlich sei zudem, dass Menschen mit internationaler Familiengeschichte,
die aufgestiegen sind – ins Bildungssystem, in die Politik, in die
Redaktionen – sich in rassistisch gefärbten Debatten nicht mehr gemeint
fühlten. „Sie sagen: ‚Merz redet ja nur über die arbeitslosen Flüchtlinge.‘
Und solange sie selbst in Sicherheit leben, sagen sie nichts.“
Arslan arbeitet im öffentlichen Dienst – auch ein sicherer Job, wie er
sagt. Den Rest seiner Zeit widmet er der Bildungsarbeit. Mit seiner
Initiative „Reclaim and Remember“ geht er in Schulen, spricht mit
Jugendlichen über Rassismus, Gewalt, Erinnerung und Empowerment.
Aufklärungsarbeit – ganz ohne Fördergelder, selten finanziell honoriert,
meist ehrenamtlich. „Wir mussten die Gedenkkultur selbst in die Hand
nehmen“, sagt er.
Jahrelang fanden die offiziellen Reden in Gedenken an die Brandanschläge in
Mölln ohne seine Familie statt. Die Stadt erinnerte – aber ohne den
Betroffenen ein Rederecht zu geben. Also gründeten sie ihre eigene
Initiative: ein Gedenken aus der Perspektive der Überlebenden, nicht der
Verwaltenden.
„Wir haben wohl das Stadtbild gestört“, sagt Arslan und lacht. „Die
harmonische Gedenkkultur der weißen Mehrheitsgesellschaft unterbrochen und
dadurch durchbrochen.“ Heute gilt Mölln als Synonym für partizipatives
Erinnern – weil die Familie Arslan es erkämpft hat. Dabei störe eigentlich
genau das im Stadtbild: „Dass wir Betroffenen bis heute die Bildungsarbeit
übernehmen müssen“, sagt Arslan.
In seinen Workshops spricht er über Vorurteile, Gewalt und Verantwortung.
Nach dem Kölner Silvester 2015, als tagelang über „arabische Männer“ und
Geflüchtete diskutiert wurde, erklärte er immer wieder, dass das Problem
nicht „der syrische oder muslimische Mann“ sei, „sondern das Patriarchat –
in jeder Kultur“.
Und auch um Angst dreht sich Arslans Bildungsarbeit – seiner eigenen: der
Angst um seine Kinder. Ob sie allein zur Schule gehen können, ob sie auf
dem Spielplatz beleidigt oder bedroht werden, ob ein falsches Wort wieder
etwas auslöst. Es ist die alltägliche Angst, über die kaum jemand Spricht,
obwohl sie so viele Menschen mit internationaler Familiengeschichte in
Deutschland bedrückt – während die Angst vor dem „fremden Flüchtling“, vor
„den Migranten“ politisch aufgebauscht und ausgeschlachtet wird. Merz’
Worte zum Stadtbild treffen deshalb doppelt: Sie verschweigen eine
Bedrohung, während sie eine andere heraufbeschwören.
In Potsdam dominiert Ende Oktober ebenfalls der Regen das Stadtbild. In der
Fußgängerzone spritzen die Pfützen, Touristen hasten mit Regenschirmen
Richtung Schloss Sanssouci. Englische und spanische Wortfetzen mischen sich
mit dem Klang der Straßenbahn. Dass Friedrich Merz seine Aussage über das
„Stadtbild“ ausgerechnet hier machte, ist kein Zufall. Brandenburg gilt
seit Jahren als politisches Pulverfass: In aktuellen Umfragen liegt die AfD
mit rund dreißig Prozent vorn, die SPD folgt knapp dahinter, die CDU liegt
auf Platz drei. Die Stimmung ist aufgeheizt. In vielen Orten wächst das
Misstrauen, die Gespräche werden härter, die Grenzen zwischen konservativ
und rechts verschwimmen. Merz’ Worte fielen hier auf fruchtbaren Boden.
Seitdem ist „das Stadtbild“ zum Schlagwort geworden – nicht mehr nur in der
Politik, sondern in Alltagsgesprächen, auf Marktplätzen und Schulhöfen.
Eine Gruppe Jugendlicher steht unter einem Vordach, lacht laut, klatscht
sich ab. Als sie gefragt werden, was sie von der Aussage des Kanzlers
halten, werden sie plötzlich still. Einer zuckt mit den Schultern, eine
andere verdreht die Augen. „Einfach nur nichts“, sagt einer aus der Gruppe,
erklären möchte er das nicht und auch anonym bleiben, das sei wichtig für
ihn. „Wir würden uns sicherer fühlen ohne den Merz“, sagt schließlich die
17-jährige Steph. Sie ist noch Schülerin und sie will ihren echten Namen
nicht in der Zeitung lesen. Aus Angst, die Eltern könnten Ärger machen.
Denn zu Hause sei diese Debatte ein Thema: ihre Mutter habe Angst, sie
könnte „von einem dieser arbeitslosen Flüchtlinge“ angegriffen werden.
Steph schüttelt den Kopf. „Das ist doch eine dumme Aussage“, sagt sie. „Und
von einem arbeitslosen Deutschen werde ich dann nicht vergewaltigt, oder
was?“
## Eine Sprache, die verunsichert
Nicht alle denken so. Am Straßenrand bleibt Petra S., 65, stehen, den
Regenschirm fest in der Hand. Sie sagt, sie fühle sich „bedroht“, weil sie
in der Stadt „so viele Migranten“ sehe und höre. „Man versteht ja gar
nicht, was die reden“, sagt sie. „Als Deutsche sollte man sich doch sicher
fühlen, oder?“ Auf die Frage, wo genau sie diese Migranten sehe, schaut sie
sich suchend um, deutet auf die leere Straße und sagt schließlich: „Heute
sieht man sie nicht.“ Für sie sei das, sagt sie, kein AfD-Narrativ, sondern
„eine reale Veränderung im deutschen Stadtbild“.
Merz’ Worte wirken weit über Potsdam hinaus. Sie markieren eine Linie,
entlang derer sich das politische Klima verschiebt – weg vom Versuch, zu
beruhigen, hin zu einer Sprache, die verunsichert. Blickt man auf die
Laufbahn des Bundeskanzlers, wird klar, dass solche Töne kein Zufall sind.
Ob in den Debatten um die „deutsche Leitkultur“ in den 1990er Jahren, um
Abtreibungsrechte in den 2000ern oder mit seinen Aussagen über „kleine
Paschas“: die Grenze zum rechten Rand hat Merz immer wieder überschritten –
nicht aus Versehen, sondern mit Kalkül.
Für Ibrahim Arslan ist das keine akademische Debatte, sondern eine Frage
seines Alltags. In Mölln, sagt er, habe die Stadt seiner Familie nach dem
Anschlag keine Perspektive geboten; die Gewalt sei nicht nur Geschichte,
sie wirke weiter in ihren Beziehungen, im Vertrauen, in der Art, wie
Nachbarn einander begegnen – oder nicht begegnen. „Ob AfD oder CDU – beide
nutzen die gleiche rassistische Rhetorik“, sagt er, kurz, wie ein Urteil.
Seine Wut mündet in eine Idee. Er stellt sich vor, was passieren würde,
wenn die Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte, die das Land am
Laufen halten, für einen Tag die Arbeit niederlegten: Kitas blieben zu,
Busse fuhren nicht, Kliniken würden knapper besetzt sein. „Vielleicht
schaffen wir es, dass alle 25 Millionen die Arbeit liegen lassen“, sagt er.
„So wie wir das aufgebaut haben, so können wir es auch zerstören.“
Was erst mal klingt wie eine Drohung, ist für Arslan eine Forderung nach
Solidarität: kein Aufruf zum Chaos, sondern ein Versuch, sichtbar zu
machen, was sonst unsichtbar bleibt – wer die Arbeit leistet und wer davon
profitiert. Es ist eine taktische Idee, ein Hebel: Macht demonstrieren,
damit Anerkennung nicht länger nur ein Wort bleibt. Und doch ist da auch
der Zorn, die klare Botschaft an jene, die mit Ausschlussrhetorik Wahlkampf
betreiben: Vergesst nicht, wer dieses Land trägt.
Diese Vorstellung greift Jennifer Follmann auf. Als Merz in die Kameras
sagte, man solle „mal die Töchter fragen“, musste sie etwas dagegen tun,
[4][denn auch sie war ja schließlich als Tochter gemeint]. „Ich wollte mich
eigentlich weiter verstecken“, nicht aus Angst wie sie sagt, sondern auch
um ihre Kinder zu schützen. „Aber irgendwann war klar: Es gibt keinen Raum
mehr, um unsichtbar zu sein.“ Follmann ist 38 Jahre alt, geboren in
Luxemburg. Ihre Eltern kamen nach Deutschland als sie vier Jahre alt war.
Später floh sie aus einem streng jüdisch-orthodoxen Elternhaus. Heute lebt
sie in Chemnitz – einer Stadt, die sich gern weltoffen nennt und doch immer
wieder wegen rechter Gewalt Schlagzeilen macht. Dort gründete sie Safe
Space Chemnitz, eine Initiative für Betroffene von Rassismus,
Antisemitismus und rechter Gewalt.
Sie hat hellblondes Haar, wache, grüne Augen, ein Gesicht, das Ruhe
ausstrahlt, selbst wenn sie über Angst spricht. Wer sie sieht, erkennt
keine Aktivistin auf einer Bühne, sondern eine Frau, die gelernt hat,
Haltung zu bewahren. Follmann kennt die Erfahrung von Hass auch persönlich
– als Jüdin, als Frau. Seit Jahren engagiert sie sich in der
Flüchtlingshilfe und in der politischen Bildung, spricht an Schulen,
organisiert Workshops. Nach mehreren Angriffen steht sie unter
Personenschutz. Trotzdem entschied sie sich, sichtbar zu bleiben. „Ich
wollte nicht, dass Angst das letzte Wort hat“, sagt sie. In einer Stadt wie
Chemnitz ist das mehr als Haltung – es ist Mut.
In jener Nacht von Merz’ Töchter-These gründet sie den Instagram-Account
„Töchter gegen Merz“. Sie schreibt den ersten Post, wählt den Namen,
entwickelt die Inhalte, formuliert den Aufruf. Binnen Stunden folgen
Tausende, heute sind es rund 30.000. „Ich wollte eine Plattform schaffen
für die, über die sonst nur gesprochen wird“, sagt sie. [5][Aus ihrem
Impuls wird eine Bewegung] – kein Verein, keine Kampagne, sondern ein
Aufschrei. Der Hashtag #TöchtergegenMerz wurde tausendfach geteilt:
Schwarze, Jüdinnen, Muslimas, alleinerziehende Mütter, Transfrauen –
Frauen, die von Gewalt und Ausgrenzung erzählten, aber nicht von den
Männern, über die Merz sprach.
Einen Tag später fragt sie Selda Kaya, ob sie mitmachen möchte. Kaya, 49,
Schauspielerin und Aktivistin aus Berlin-Schöneberg, stimmt sofort zu. Sie
wuchs auf zwischen Hausbesetzer:innen, Gastarbeiterfamilien und queeren
Communities – ein Viertel, laut, solidarisch, politisch. Sie nennt es ihre
Schule des Widerstands. Selda Kaya hat dunkle Locken, eine klare Stimme und
eine Körperhaltung, die keine Zweifel vermuten lässt. Seit den Neunzigern
steht sie auf Bühnen und Straßen, kämpft gegen Sexismus und gegen das, was
sie „verkleideten Rassismus im Anzug“ nennt.
Anfang November veröffentlichten Follmann und Kaya auf dem Account einen
Aufruf: Am 9. März 2026, dem Montag nach dem Frauentag, soll das Land für
einen Tag innehalten. Kein verbotener Generalstreik, sondern ein
freiwilliger, bundesweiter Aktionstag – ein Tag des Protests, der
Solidarität, der Unterbrechung. Ein Frauenstreik, so wie es Follmann nennt.
„Wir wollen zeigen, auf wessen Schultern dieses Land ruht“, postet sie.
Politische Arbeitsniederlegungen sind in Deutschland rechtlich heikel;
erlaubt sind nur Streiks, die sich auf tarifliche Ziele beziehen. Follmann
weiß das, betont die Freiwilligkeit – legale Formen des Protests, stille
Pausen, kollektive Auszeiten, Absprache mit Gewerkschaften, gegenseitigen
Schutz.
Im Gespräch mit ihnen wird klar, wie sehr die Wut der Betroffenen eine
andere Tonlage hat als die Empörung der Mehrheitsgesellschaft. Follmann
spricht leise, aber mit einer Schärfe, die hängen bleibt: „Wenn Menschen
wie wir nicht mehr sprechen, übernehmen wieder andere das Wort.“ Gemeint
sind jene, die ohnehin das Wort haben – Politiker, Männer, die seit
Jahrzehnten den Diskurs bestimmen. Es geht ihr nicht um Kontrolle, sondern
um Stimme. Darum, wer sprechen darf – und wer immer nur Thema bleibt. Kaya
nickt. „Wir haben genug von dieser symbolischen Solidarität. Heute gegen
rechts, morgen wieder still. Wir brauchen Strukturen, keine Statements.“
Sie spricht von Frauenhäusern, die längst am Limit arbeiten – überfüllt,
unterfinanziert, übersehen. Nur ein Beispiel von vielen.
Zurück in Mölln hat der Regen endlich aufgehört. Arslan steht an der
Promenade, der Himmel noch grau, ein Boot zieht langsam über den Kanal.
Hinter ihm die Kirche, davor Fachwerkhäuser – das Idyll bleibt stehen, als
wäre nie etwas passiert. Arslan zeigt hinter sich, lacht kurz. „Und pass
ich da rein?“, fragt er scherzend. Dann wird er ernst: „Heute passt der
Flüchtling nicht ins Bild, morgen die Queeren, dann die Frauen – und
irgendwann kommt jeder dran.“
Transparenzhinweis: In einer früheren Version des Textes wurden die Namen
von Ibrahim Arslans Cousine Ayşe und seiner Schwester Yeliz vertauscht.
Diesen Fehler haben wir korrigiert.
4 Nov 2025
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