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       # taz.de -- Historiker über NS-Täter nach der Tat: „Sie hatten klare Exit-Strategien“
       
       > Sich noch schnell reinwaschen: Der Historiker David Reinicke untersucht,
       > wie sich NS-Täter für die Nachkriegsprozesse vorbereiteten.
       
   IMG Bild: Trügerisch fröhliche Runde: SA-Wachmänner besteigen einen Ausflugsdampfer nach Borkum
       
       taz: Herr Reinicke, haben NS-Wachleute ihre Gewalt gegen Häftlinge je
       bereut? 
       
       David Reinicke: So etwas ist praktisch nicht bekannt. Vielmehr suchten
       diese Männer ihre Taten in [1][Nachkriegsprozessen] zu legitimieren: Sie
       hätten aus einem Befehlsnotstand heraus gehandelt. Den gab es definitiv
       nicht. Aus etlichen Akten – sowie aus Christopher Brownings akribisch
       recherchierten Buch „Ganz normale Männer“ über das Hamburger
       [2][Reserve-Polizeibataillon 101] – geht hervor, dass die Beteiligung
       selbst an Massakern explizit freiwillig war.
       
       taz: Wenn es keine Skrupel gab: Warum bewarben sich im Jahr 1938
       SA-Wachleute aus den brutal geführten Emslandlagern weg? 
       
       Reinicke: Das geschah im Kontext einer Umstrukturierung Ende der 1930er
       Jahre: Das KZ–System hatte sich durchgesetzt und die reinen
       Strafgefangenenlager verloren an Bedeutung. Justizinspektoren aus
       Gefängnissen übernahmen die Verwaltung der Emslandlager. Die nun
       überzähligen SA-Leute versetzte man in Gefängnisse. Auch den Lagerleiter
       Wilhelm Schenk, der zu seinem Weggang schrieb: „Ich will Ihnen, Oberführer,
       nicht untreu werden.“ Aber er müsse auch an seine Familie denken.
       
       taz: Warum schrieb er das? 
       
       Reinicke: Er glaubte rechtfertigen zu müssen, dass er aus ökonomischen
       Gründen eine besser bezahlte Arbeit am Gefängnis Wolfenbüttel annahm. Seine
       Personalakte zeigt, dass er nach 1945 weitere Versuche unternahm, sein
       Handeln zu legitimieren. Anhand solcher Fälle möchte ich gern intensiver
       untersuchen, wie Leute auch innerlich ihren Abschied vom Täterhandeln
       vollzogen. Vom besagten Wilhelm Schenk weiß ich nicht, ob er in
       Wolfenbüttel weiter Häftlinge misshandelt hat. Aber ich weiß, dass er den
       [3][Gewaltkontext im Emsland] verlassen und das Täterhandeln dort beendet
       hat.
       
       taz: Wenn auch nicht aus Reue. 
       
       Reinicke: Nein. Das war wohl in den wenigsten Fällen so. Wie Leute zu
       Tätern werden, wissen wir heute: dass es nicht pathologisch ist, sondern
       dass Gruppendynamik, generationelle Prägung, moralische Verschiebungen,
       auch die Idee hegemonialer Männlichkeit diesen Leuten ermöglichen, Gewalt
       auszuüben. Aber wie Täter da wieder rausgehen, ist kaum erforscht.
       
       taz: Welche Gründe haben Sie gefunden? 
       
       Reinicke: Opportunitäts- und Karrieregründe. Für SA-Männer bedeutete der
       Eintritt in den Wachdienst Anfang der 1930er Jahre auch eine soziale
       Absicherung. Sie waren vielfach von der Wirtschaftskrise betroffen und
       lebten in prekären Verhältnissen. Da versprach eine feste Anstellung
       Sicherheit. Mit der Zeit zeigte sich, dass sich die Hoffnung, materiell von
       der Zugehörigkeit zur Wachmannschaft zu profitieren, nicht erfüllte. Gab es
       dann anderswo lukrativere Stellen, wanderte man ab: in den Strafvollzug
       oder in die Rüstungsindustrie.
       
       taz: Und manche bereiteten, die deutsche Niederlage vor Augen, ihre
       Reinwaschung vor. 
       
       Reinicke: Ja, da gab es klare Exit-Strategien. Josef Kramer, Lagerleiter
       des [4][KZ Bergen-Belsen], schreibt kurz vor Kriegsende an seine
       Vorgesetzten, dass ihm Nahrung für die Häftlinge fehle. Und präsentiert
       sich so als Befehlsempfänger, der sein Bestes getan hat. Das kann man
       durchaus als Vorbereitung einer Verteidigungsstrategie verstehen. Auch die
       Lagerärzte in Bergen-Belsen fingen kurz vor Kriegsende plötzlich an, die
       Häftlinge zu behandeln. Dr. Fritz Klein und Lagerleiter Josef Kramer half
       das nicht. Sie waren zentral an der Ermordung der ungarischen Juden in
       [5][Auschwitz] beteiligt und wurden zum Tode verurteilt. Aber Lagerarzt
       Ernst Heinrich Schmidt schaffte es über die Herausgabe von Medizin, dass in
       Nachkriegsprozessen Häftlinge positiv für ihn aussagten. Er wurde in
       mehreren Verfahren freigesprochen.
       
       4 Nov 2025
       
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