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       # taz.de -- Homeschooling in den USA: Lernen, was die Eltern für richtig halten
       
       > Immer weniger Kinder besuchen in Florida staatliche Schulen. Das ist ganz
       > im Sinne der Trump-Regierung. Ein Besuch im Sunshine State.
       
   IMG Bild: Mulan Brice (8, links) und Diazyia Ceant (5) winken ihrer Familie zu, als sie am ersten Schultag auf dem Weg zum Unterricht sind
       
       Kurz bevor der Countdown stoppt, betritt Shannon Couillard den Gebetsraum.
       Sie nimmt in der zweiten Reihe Platz und steht direkt wieder auf. Eine Band
       betritt die Bühne. „I love that you loved me first!“, ruft ein junger
       Sänger und richtet sich an Jesus. Die Pastorin stimmt mit ein. Sie streckt
       ihre Hände gen Himmel und geht bei besonders kraftvollen Passagen in die
       Knie. Das Publikum ruft „Amen!“
       
       Es ist 8.30 Uhr an einem Oktobermorgen in Oviedo, einer Kleinstadt vor
       Orlando im US-Bundesstaat Florida. Villen mit Privatufern am See reihen
       sich aneinander. Geländewagen glänzen in der Sonne. In der East Coast
       Believers Church ist es voll und laut. Neulinge verlassen den Gottesdienst
       mit Willkommensgeschenken. Andere verabreden sich zum Lunch. Viele der
       anwesenden Familien gehören zur schnell [1][wachsenden
       Homeschooling-Community] in Florida. Auch Shannon Couillard unterrichtet
       ihren Sohn Colin, 5 Jahre alt, zu Hause.
       
       Jetzt wirbelt er mit seiner kleinen Schwester Colette durch einen
       Donutladen. Für die Entscheidung, ihre Kinder nicht in die Schule zu
       schicken, sei ihr Glaube zwar nicht ausschlaggebend gewesen, sagt
       Couillard. Aber sie könne so sichergehen, dass sie von gleichgesinnten,
       gottesfürchtigen Menschen umgeben sind. In Couillards Freundeskreis
       unterrichten viele Familien ihre Kinder ebenfalls zuhause. Der noch
       wichtigere Grund für Couillard: „Unsere Kinder sind individuelle Menschen.
       Also haben sie auch eine individuelle Bildung verdient.“
       
       ## „Natürlich geraten die Schulen in Panik“
       
       Damit trifft Couillard den amerikanischen Zeitgeist. Ein Blick nach Florida
       offenbart, wie amerikanische Schulbildung in Zukunft aussehen könnte.
       Kinder in Orlando lernen heute in Microschools, in gemieteten Räumen in
       Einkaufszentren, im Online-Unterricht – oder in sogenannten Co-Ops,
       Zusammenschlüssen von Homeschool-Familien.
       
       Staatliche Schulen in Orlando stellen derweil Beratungsteams ein. Sie
       ziehen von Tür zu Tür, um Schüler:innen zu gewinnen. Ob Couillard den
       möglichen Verlust öffentlicher Schulen bedauere? „Natürlich geraten die
       Schulen in Panik“, sagt sie. Sinkende Schülerzahlen bedeuten eben weniger
       Geld. Aber sie sei nicht für die Schulen verantwortlich, sondern für ihre
       Kinder.
       
       Familien in Florida können inzwischen rund 8.000 Dollar pro Jahr aus
       öffentlichen Mitteln für private oder religiöse Bildungsangebote nutzen –
       also auch für Homeschooling. Kritiker:innen warnen, dass [2][dem
       staatlichen Schulsystem dadurch Milliarden entzogen werden.] Denn wenn
       Schüler:innen staatliche Schulen verlassen, bekommt die jeweilige Schule
       auch kein Geld mehr für das Kind. Die Mittel fließen stattdessen an
       Privatschulen oder eben an die Eltern, sollten sie sich für Homeschooling
       entscheiden.
       
       ## Die „finale Mission“: Das Bildungsministerium abschaffen
       
       Die Zahl der Kinder, die in Florida zu Hause unterrichtet werden, ist
       innerhalb der letzten fünf Jahre [3][um fast 50% gestiegen]. Eltern
       erhoffen sich vom Homeschooling oft, dass ihre Kinder nur noch mit Inhalten
       konfrontiert werden, die im Einklang mit ihren eigenen Werten stehen. Mehr
       Familienzeit. Viele wollen ihre Kinder auch vor Mobbing oder Amokläufen
       schützen. Die meisten Homeschooler sind weder ultrarechts noch entsprechen
       sie dem alten Bild abgeschotteter Eigenbrötler.
       
       Doch unter Donald Trump gewinnt die Bewegung an Momentum. [4][Im Project
       2025, dem autoritären Fahrplan für die aktuelle US-Regierung] der
       rechtskonservativen Heritage Foundation, heißt es: „Der Präsident sollte
       Bildungsangebote außerhalb der von ‚Wokeness‘ dominierten öffentlichen
       Schulen fördern“.
       
       Lindsey Burke, Hauptautorin des Bildungskapitels, sitzt inzwischen im
       Bildungsministerium. [5][Laut Recherchen von ProPublica] will sie möglichst
       vielen Familien den Ausstieg aus staatlichen Schulen ermöglichen. Das
       Ministerium selbst soll abgeschafft werden. Bildungsministerin Linda
       McMahon nennt das die „finale Mission“. Die US-Regierung verspricht:
       maximale elterliche Freiheit.
       
       ## „Die Fähigkeit geht verloren, sich als Teil eines diversen Landes zu
       begreifen“
       
       Für Homeschoolerin Couillard bedeutet diese Freiheit, dass sie mit ihren
       Kindern nach Südflorida fahren kann, um sich am Strand unter einem
       Mikroskop den Sand anzuschauen. Als ihr Sohn noch klein war, habe sie Angst
       bekommen, durch ihre Arbeit die gemeinsame Zeit zu verpassen.
       
       Beschlossen, ihre Kinder nicht einzuschulen, hatte Couillard aber schon
       lange vor deren Geburt. Damals arbeitete sie bei einem Schulbuchverlag.
       Ständig habe sie Inhalte wieder ändern müssen, weil sie irgendwem nicht
       gepasst haben. Natürlich sei es wichtig, dass jede Bevölkerungsgruppe
       repräsentiert wird. „Aber wir verkürzen unsere Geschichte, nur um jede
       einzelne Minderheit mit einzubeziehen,“ findet Couillard. Ein Anruf bei
       Kasey Meehan. Für die [6][Organisation PEN America], die sich für die
       Rechte von Literaturschaffenden und gegen Zensur einsetzt, beobachtet sie,
       wie politische Entscheidungen den Unterricht in den USA beeinflussen. Sie
       sagt: „Es ist eine politische Strategie, Empörung gegen öffentliche Schulen
       zu schüren.“ Das Ziel sei, Gelder in privatisierte Bildung umzuleiten. Die
       Gefahr: Schüler:innen könnten bald nur noch mit einem kleinen Spektrum
       an Überzeugungen in Berührung kommen. „Dabei geht die Fähigkeit verloren,
       sich als Teil dieses diversen Landes zu begreifen.“
       
       ## Unterricht aus „christlicher Perspektive“
       
       Eine Vorstadtsiedlung vor Orlando, wenige Tage später. Mittagshitze. Die
       Straße ist ausgestorben. Verlassene Basketballkörbe stehen in den
       Einfahrten. Brandy Pava öffnet die Tür. Tätowierte Arme, einladendes
       Lächeln. „Willkommen!“. Ihr Mann ist Kolumbianer, erzählt Pava, während sie
       Kuchen serviert. Sie hat Angst um ihn, [7][landesweit gehen Beamte der
       US-Einwanderungsbehörde ICE brutal gegen mutmaßlich papierlose
       Einwanderer:innen vor.] Er ist überzeugter Republikaner und fürchtet
       sich nicht.
       
       Die ersten Jahre ihres Lebens haben ihre gemeinsamen drei Kinder in Mexiko
       verbracht. Dort sei es üblich, für ein paar Stunden zur Schule zu gehen und
       den restlichen Tag mit der Familie zu verbringen, erzählt sie. „Ich liebe
       die Freiheit hier in Florida“, sagt sie. Inzwischen kommt zweimal pro Woche
       eine Tutorin zu ihnen nach Hause. Den Rest übernimmt Pava. Ihr Mann
       arbeitet bei einer amerikanischen Airline und ist oft unterwegs.
       
       Pava will ihren Kindern das vermitteln, was sie für richtig hält. Aus einer
       christlichen Perspektive. „Will ich, dass sie glauben, dass
       gleichgeschlechtliche Beziehungen ein normaler Teil von Familien sind?
       Nein.“ Wie würde sie reagieren, wenn sich eines ihrer Kinder outen würde?
       „Ich freue mich, wenn sie glücklich sind“, sagt sie. „Ich möchte es ihnen
       einfach nicht beibringen.“
       
       ## Homeschooling, um Kinder vor Rassismus zu schützen
       
       Ron DeSantis, republikanischer Gouverneur von Florida, brachte es durch
       rechte Identitätspolitik in Klassenzimmern zu nationaler Bekanntheit. Aus
       seiner Feder stammt das sogenannte [8][„Don’t Say Gay”-Gesetz], es
       verbietet das Sprechen über Sexualität in öffentlichen Schulen.
       
       Orlando Downtown, wieder im Oktober. Diesmal ist es draußen trüb. In einem
       Café sitzt Nirmala Prakash. Auch sie bestellt sich die Lehrer:innen
       inzwischen nach Hause. Einen Tutor für Naturwissenschaften, eine
       Englischlehrerin. Laut der National Education Association liegt Florida
       beim durchschnittlichen Gehalt für Lehrer:innen staatlicher Schulen in
       den USA auf dem letzten Platz. Auf Facebook verkaufen dafür Eltern ihre
       Kurse und Lehrpläne. Lindsey Burke aus dem US-Bildungsministerium erklärte,
       sie sei gegen jegliche Regulierung. Stattdessen sollen Yelp-ähnliche
       Bewertungen helfen, Entscheidungen bei der Bildung der Kinder zu
       treffen.Ihre Tochter sei hochbegabt und befinde sich auf dem
       Autismus-Spektrum, sagt Prakash. Eine staatliche Schule sei deshalb für sie
       nicht in Frage gekommen. Politisch sei Florida zwar absurd. „Aber
       bildungstechnisch haben wir hier alle Möglichkeiten der Welt.“ Sie möchte
       ihre Tochter vor ultrakonservativen Einflüssen schützen. Und vor Rassismus.
       „Auf Facebook gibt es viele Black-Homeschooling-Gruppen“, sagt sie. In
       Florida hat sie Prakash bis heute nicht gefunden.
       
       ## Aktivismus für öffentliche Bildung
       
       Manche in Orlando kämpfen dafür, dass staatliche Schulen bestehen bleiben.
       Eine von ihnen ist Stephanie Vanos. Als Donald Trump 2016 zum ersten Mal
       gewählt wurde, dachte sie: „Wir müssen unsere Kinder schützen.“ Sie ist
       Mutter dreier Töchter, bezeichnet sich als Aktivistin für öffentliche
       Bildung.
       
       Sie beschreibt ihr Dilemma: „Ich finde, öffentliche Schulen sollten keine
       politischen Orte sein“, sagt sie. [9][Aber inzwischen färbe Trumps
       autoritärer Regierungsstil auf die Bundesstaaten ab.] Staatliche Schulen
       hätten immer weniger Mittel zur Verfügung. „Ich weigere mich, den Kopf in
       den Sand zu stecken und so zu tun, als würde all das nicht passieren.“
       
       Wie die Bildung der Zukunft in Amerika aussehen könnte? „Das gesamte
       Bildungssystem wird privatisiert sein, wenn es so weitergeht“, sagt Vanos.
       Lindsey Burke kündigte bereits Anfang des Jahres an: „Wir werden eine Menge
       leerer Schulgebäude haben.“
       
       Diese Recherche wurde durch das Daniel-Haufler-Stipendium der taz Panter
       Stiftung ermöglicht.
       
       5 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schulunterricht-daheim-in-den-USA/!5859670
   DIR [2] https://www.floridapolicy.org/posts/florida-continues-to-drain-much-needed-funds-away-from-public-schools-to-private-and-home-school-students
   DIR [3] https://www.newsweek.com/homeschooling-florida-jumps-50-percent-2112148
   DIR [4] https://www.forbes.com/sites/petergreene/2024/07/13/what-does-project-2025-actually-plan-for-education/
   DIR [5] https://www.propublica.org/article/education-department-public-schools-activists-linda-mcmahon-trump
   DIR [6] https://pen.org/
   DIR [7] /ICE-Abschiebungen-in-New-York/!6121544
   DIR [8] /Dont-Say-Gay-Gesetz-in-Florida/!5841735
   DIR [9] /USA-unter-Donald-Trump/!6121519
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sophie Tiedemann
       
       ## TAGS
       
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