# taz.de -- Gaza-Tagebuch: „Wir gehen an den Gräbern vorbei und ziehen weiter“
> Unser Autor will an ein Ende des Kriegs glauben. Doch er findet keinen
> Weg, seinen Zweifeln zu begegnen. Und erkennt: Die Unsicherheit wird
> bleiben.
IMG Bild: Die Gräber unserer Freunde. Kinder spielen auf einem Grab in Khan Younis, Südgaza, am 31. Oktober 2025
Mein Freund – er ist mittlerweile im Ausland – fragt mich: „Du bist immer
noch drinnen. Ist es wirklich vorbei?“ Ich antworte: „Es scheint so. Aber
nach allem, was passiert ist, vertraut hier niemand mehr seinem Instinkt.
Zweifel sind zur Grundlage von allem geworden.“ Er fragt: „Du zweifelst,
also bist du?“, dann lachte er laut.
Seit Oktober vor zwei Jahren habe ich gefühlt nicht mehr gelacht. Ist der
Krieg wirklich vorbei? Damit dieses Gefühl endlich wieder zurückkehren
kann?
Wie kann ich mein Gehirn davon überzeugen, nicht mehr ständig in
Alarmbereitschaft zu sein? Wie kann ich mein Herz davon überzeugen,
Hoffnung zu haben, daran festzuhalten? Die Hoffnung wieder ganz oben auf
die Liste der gefühlten Emotionen setzen, nachdem sie zwei ganze Jahre lang
ganz unten war?
Im Moment fühle ich mich noch wie in der Schwebe – ein seltsames Gefühl,
das ich noch nie zuvor erlebt habe. Ich stehe am Rande eines vagen
Schmerzes. Die Welt fühlt sich weiter fern und kalt an.
## Als wäre die Welt ganz weit weg
Ich habe einen Vorschlag für dich, liebe Welt: Wie wäre es, wenn wir
zueinander zurückkehren? Auch wenn wir uns gegenseitig verfluchen, endlos
schreien, als wären wir Feinde. Komm zu mir zurück, denn du scheinst so
weit weg.
Dieses Gefühl der Schwebe und Zerrissenheit ist beunruhigend. Ich aber bin
ein Feigling. Und mag es nicht, zwischen den Dingen zu stehen.
In unserem Land haben wir gelernt, dass die Bindung zu dieser Erde eine
schwer zu heilende Krankheit ist. Andererseits haben wir auch gelernt, dass
Distanz zu ihr uns Wärme und Gefühle raubt, uns im Schatten der
Vergessenheit zurücklässt.
Ich möchte mich nicht zu sehr an die Welt klammern. Ich habe Angst, dass
sie meiner leid werden könnte. Aber ich möchte auch nicht zu weit abdriften
und bei ihr in Vergessenheit geraten. Ich bleibe ein Feigling. Und weiß
nicht, in welche Richtung ich laufen soll.
## Ist es wirklich vorbei?
Wir sind wirklich durch die Hölle gegangen. Und wer durch sie gegangen ist,
der lebt nicht wie andere, isst nicht wie andere, schläft nicht wie andere.
Der träumt nicht und weint nicht.
[1][Wir gehen an den Gräbern unserer Freunde vorbei] und ziehen weiter. Wir
lassen ihre Gebete und Gefühle zurück. Wir durchlebten Hunger und Durst,
Angst und Unruhe. Wir durchlebten uns selbst und verloren uns im Kampf um
die Suche nach Sinn. Wir gehen stetig voran – wir kennen den Weg, aber das
Ziel nicht mehr.
[2][Wenn meine Tochter Elin voller Angst zu mir rennt] und sich in meine
Arme wirft, streichle ich ihr über das Haar und flüstere ihr tröstende
Worte zu. Ich sage ihr, dass schwere Zeiten nicht das Ende bedeuten,
sondern Wachstum. „Jede Angst, jeder Schmerz macht dich stärker, mein
Schatz. Genau wie Eisen, das wir schmieden, legen wir es ins Feuer, und es
wird härter.“
Für kurze Momente erfüllt mich die Hoffnung, wenn meine Tochter sich wieder
beruhigt. Aber mein Verstand ordnet die Ereignisse neu, öffnet dem Zweifel
die Tür und fragt: Ist es wirklich vorbei?
## Wir werden diese Unsicherheit in uns tragen, für immer
Dann kommt mir ein Zitat des ägyptischen Schriftstellers Ahmed Khaled
Tawfik in den Sinn: „Ich möchte weinen, zittern, mich an einen der
Erwachsenen klammern – aber die harte Wahrheit ist, dass ich einer der
Erwachsenen bin.“
Selbst wenn dieser Krieg wirklich endet, werden wir diese Unsicherheit in
uns tragen, für immer. Sie wird uns Hoffnung und Ruhe fürchten lassen. Sie
wird jedes Mal, wenn der Geist des Krieges irgendwo vorbeizieht, wieder
ihren Kopf erheben.
Wir werden uns weiter nach der Umarmung „eines der Erwachsenen“ sehnen –
ohne zu merken, dass wir selbst die Erwachsenen sind.
[3][Ist der Krieg vorbei? Ich werde immer antworten: Ja.] Aber tief in
meinem Inneren werde ich immer antworten: Nein. Eintausendmal nein.
4 Nov 2025
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## AUTOREN
DIR Muhammad Ghoneim
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