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       # taz.de -- Lady-Gaga-Konzert in Berlin: Sie hat die Zunge am Tod
       
       > Die Königin ist zurück: Bei ihrem Auftritt in Berlin überzeugt Lady Gaga
       > mit einer aufwendig choreografierten Performance und stimmigen Bildern.
       
   IMG Bild: Lady Gaga ist zurück: hier am 29. September in der O2 Arena in London
       
       Lady Gaga ist wie wir, sie ist zerrissen, sie hadert mit sich. Sie warnt
       sich vor sich selbst. Vorsicht, sagt sie da auf einem großen Bildschirm,
       sich selbst gegenüber, einmal in einer dunklen und einer hellen Version von
       sich. Vorsicht, sagt sie mit zwei Stimmen, das Chaos in deinem Herzen wird
       niemals aufhören, bis du einen anderen Weg findest, zu nutzen, was du
       suchst. Und auch, wenn nicht ganz eindeutig ist, was sie damit meint, der
       Ton für das große [1][Lady Gaga] Konzert an diesem Abend in Berlin ist
       gesetzt: Der Popstar mit dem Rilke-Zitat-Tattoo wird existenziell.
       
       „The category is dance or die“, heißt zu Beginn des Songs „Abracadabra“.
       Eine Zeile, die sie in Berlin auf Deutsch sagt. Und es wird getanzt. Und
       später auch noch gestorben. Zumindest liegt sie mit Skeletten in einer Art
       Sandkasten, steht sich auf einem Spielfeld gegenüber und schlägt sich
       selbst, denn jedes Schachbrett hat zwei Königinnen, wie der vierte Akt
       dieses Abends heißt.
       
       Es ist ein Konzert, das einer Theateraufführung gleicht, in der die Herrin
       des Chaos, the Mistress of Mayhem, gegen die eigene Vernunft antritt.
       „Mayhem“, so heißt das aktuelle Album und Mayhem Ball heißt die Tour, die
       Lady Gaga 87-mal aufführen wird – und das ist die beste Pop-Inszenierung,
       die es derzeit zu sehen gibt. Vermutlich sogar jemals zu sehen gab. Ganz
       großes Pop-Theater.
       
       ## Sie ist wieder da
       
       Lady Gaga ist zurück. Es ist nicht so, dass sie ganz weg war, aber in
       Deutschland trat sie seit 2022 nicht mehr auf. In Berlin schon länger
       nicht. Wegen Krankheit wurden vorherige Touren abgesagt, oder sie musste in
       Filmen wie [2][Joker 2] mitspielen, Jazz-Alben mit [3][Tony Benett]
       aufnehmen oder es wieder mit Dance Pop probieren, wie auf dem Album
       „Chromatica“ von 2020, nur irgendwo hakte es immer ein bisschen. Es lief
       nicht ganz rund bei Gaga. Trotz kommerzieller Erfolge fehlte der Zauber
       ihrer ersten beiden Alben „The Fame“ (2008) und „Born This Way“ (2011). Sie
       musste sich und ihren Elektro/EDM-Dance-Pop wirklich neu erfinden, auch
       weil das Genre grundsätzlich auserzählt war beziehungsweise von anderen
       Acts bereits anders weiter erzählt wurde.
       
       Lady Gaga probierte es mit „Joanne“, einem Americana-Album, für das sie
       einen rosa Filzhut trug. Für die Filmmusik von „A Star Is Born“ bekam sie
       einen Oscar, sie sang bei Joe Bidens Amtseinführung und die Nationalhymne
       beim Super Bowl. Doch trotz aller vordergründigen Superlative: Die
       Künstlerin, die immer der interessanteste Popstar war, weil da ein Bruch
       war, ein Riss in der Inszenierung, der nicht nur im ungünstigen
       Lichteinfall zu sehen war, sondern immer auch mitgedacht war – sie schien
       verschwunden. Aber als Anfang Februar diesen Jahres das Video zum Song
       „Abracadabra“ über das Internet hereinbrach, da war es sofort ganz klar:
       Sie ist wieder da. Die Musikerin mit den eingängigen Hooks, den
       Adams-Family-haften Tanzchoreografien, der Zunge am Tod. Dem Händchen für
       die richtigen Kollaborateure.
       
       So dankt sie an diesem Abend in Berlin ihrer früheren Freundin und
       künstlerischen Partnerin Lady Starlight, mit der sie in New Yorker Clubs
       auftrat und die ihre ersten Alben inspirierte. Sie habe an sie geglaubt,
       sie mitgenommen, sie eingeführt. „Ich war überhaupt nicht cool, ich weiß
       ehrlich gesagt nicht mal, ob ich heute cool bin.“ sagt Gaga, während sie am
       Klavier sitzt, der Teil der Show, der für Emotionen vorgesehen ist. Lady
       Starlight legt mittlerweile im Club Berghain auf, während Gaga nebenan in
       der Uber Arena Tickets für tausende von Euros verkauft. Aber diesen
       Restgeruch des Underground, den hat sie absurderweise immer noch.
       
       Und das liegt auch an diesen aufwendig und stimmig inszenierten Auftritten,
       wie etwa in diesem Jahr als Headlinerin des Coachella Festivals oder bei
       einem irren Auftritt bei einer Veranstaltung von Netflix, wo sie
       Tänzerköpfe unter Servierglocken versteckte. Lady Gaga liefert in ihren
       Stücken gute Bilder am laufenden Band. Da ist die Hohepriesterin in einem
       roten Kleid, das über eine Art Vogelkäfig reicht, aus dem dann Tänzer
       purzeln, da ist ein Schleier, der über die ganze Bühne reicht, während sie
       sich in Krücken zum Bühnenrand kämpft, da sind Opernhaus-Balkone,
       Venedig-Zitate, Henker, Witwen, Tische, auf denen getanzt wird.
       
       ## Immer diese Stimme
       
       Wir hören ihr Atmen. Wir sehen fließende Übergänge. Nicht ein Moment, der
       gefüllt zu sein scheint. In einer Umziehpause brennt ein Feuer, knisternd.
       Aber auch das scheint ein wichtiger Moment dieses Theaterstücks, dieser
       Oper, in der sich Genres auflösen. Gitarrensolo. Strobo. Bass. Piano.
       Stimme. Immer diese Stimme.
       
       Das Rilke-Zitat, das Lady Gaga auf ihren Arm hat tätowieren lassen, endet
       übrigens so: „Gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müssten, wenn es Ihnen
       versagt würde zu schreiben.“ Und man nimmt es Lady Gaga ab, dass sie
       sterben müsste. In jeder Version von sich, der hellen und der dunklen.
       
       5 Nov 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Laura Ewert
       
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