# taz.de -- Roman „Transit“ im Theater: Die Existenz ist zu einem Stempel geschrumpft
> Marie Schwesinger und Lukas Nowak bringen Anna Seghers’ Jahrhundertroman
> „Transit“ im Werkraum am Berliner Ensemble auf die Bühne.
IMG Bild: Unüberwindbare Mauer: Paul Zichner und Kathleen Morgeneyer in „Transit“
Ein breiter Steg ragt aufwärts durch den Bühnenraum. Vielleicht eine
Landungsbrücke oder ein Quay. Am anderen Ende, weit entfernt vom Publikum,
ein Zaun aus langen schmalen Stäben, hoch wie eine Mauer. Dahinter sind
schemenhaft drei Gestalten zu erkennen. Wie Radiosprecher:innen listen
sie durch das dunkle Gitter die verschiedenen internationalen
Zuwanderungsbeschränkungen für jüdische Menschen auf: Obergrenzen von
Australien, Einreisebeschränkungen für Niederländisch-Indien, für
Casablanca, für Kanada. Wer gar keine jüdischen Geflüchteten aufnimmt.
„Transit“ basiert auf Anna Seghers gleichnamigen Roman von 1944. Er handelt
von drei Menschen, die in Marseille aufeinandertreffen: Ein Mann namens
Seidler, ein Arzt und Marie. Alle drei fliehen vor der näher rückenden
Wehrmacht und dem mit den Nazis kollaborierendem Vichy-Regime.
Marseille ist voller Menschen, die keine Arbeitserlaubnis haben, um ihr
Leben fürchten und den Kontinent nicht ohne Visa de sortie,
Ausreisegenehmigung, verlassen dürfen. Sie hoffen, die gefährliche Flucht
über das Meer antreten zu können, obwohl viele Schiffe angegriffen oder
zurückgeschickt werden.
[1][Durch Zufall ist Seidler an die Papiere des toten, politisch verfolgten
Autors Weidel gekommen]. Als Seidler klar wird, dass Weidel im Besitz einer
bereits bezahlten Ausreise nach Mexiko war, nimmt er dessen Identität an.
Während er zögert, ob er Europa wirklich verlassen soll und auf weitere
Papiere wartet – das Transit für die Durchreise durch New York, das Visa de
sortie für Frankreich – trifft er in den von Geflüchteten bevölkerten
Straßen Marie. Sie reist mit einem Arzt und sucht zugleich ihren ehemaligen
Partner. Zwischen Marie und Seidler entspinnt sich eine Romanze.
## Eine unmögliche Wahl
Als Seidler klar wird, dass Marie nach Weidel sucht, dem Mann, in dessen
Identität er geschlüpft ist, steht er vor einer unmöglichen Wahl: Sagt er
der Frau, in die er sich gerade verliebt, die Wahrheit über ihren Mann und
riskiert damit seine eigene Fluchtmöglichkeit? Oder lässt er sie weiter
ihre eigene Flucht verzögern, um den Spuren eines geliebten Gespenstes
nachzujagen, die eigentlich seine Spuren sind?
Was auf den ersten Blick eine komplizierte Liebesgeschichte zwischen vier
Menschen zu sein scheint, entpuppt sich schnell als das Ringen um
Zugehörigkeit. Es ist keine traditionell verstandene romantische Liebe, die
die Protagonist:innen umtreibt. Marie dringt auf der Bühne immer wieder
beinahe distanzlos in den persönlichen Raum von Seidler und dem Arzt ein
und treibt sie an die äußersten Ränder des Stegs, weil sie das Gespenst von
Weidel nicht loslassen kann.
Ihr Tun macht überdeutlich, dass Loyalität und Solidarität das Einzige ist,
was Menschen auf der Flucht am Leben erhält. Seidler und der Arzt
konkurrieren nicht mit Maries Liebe zu Weidel. Sie halten sich hoffend an
ihrer unerschütterlichen Überzeugung fest. Hoffen dank ihr, dass jemand,
irgendjemand, ebenso unerbittlicher und unverrückbarer an ein Wiedersehen
mit ihnen glaubt wie Marie an eines mit Weidel.
## Träume von einer friedlichen Zukunft
Ziellos taumeln die Figuren in der Hafenstadt umher, vom mexikanischen
Konsulat zur französischen Präfektur. Sie verfallen einander, halten sich
an Träumen von einer Zukunft weit weg fest, an der Möglichkeit einer
Realität ohne Krieg. Währenddessen schiebt sich die Mauer aus den langen
Stäben immer näher. Darauf projiziert schimmern Bilder vom
sonnendurchfluteten Hafen des heutigen Marseille, so hell, wie er
vermutlich damals war.
Der Bühnenraum wird enger, während die drei wie Fracht zu Datenreihen auf
Papier werden. In ihren Koffern verstauen sie Passierscheine, Visa,
Tickets. Auf ihren weißen Jacken die Stempel, zu denen ihre Existenz
zusammenschrumpft. Dagegen der Roséwein – er schmeckt wie Himbeersaft und
lässt die in lähmender Verharrung Gefangenen kurz loslassen, feiern,
Abschied nehmen, an der Hoffnung auf ein Leben in Gemeinschaft festhalten.
Am Ende des Stücks ist die drohende Gewalt der Truppen so nah, dass nur
noch ein schmaler Streifen Zeit vom Steg verbleibt. Darauf steht Seidler.
Marie und der Arzt sind abgereist, mit einem Schiff, das drei Tage später
zwischen Dakar und Martinique untergehen wird.
Heute sitzen wieder in die Untätigkeit verbannte Getriebene, Wartende,
Hoffende in Europas Häfen, an seinen Küsten und Grenzen. [2][Sie tragen
andere Stempel auf ihren Jacken, man verwendet andere Adjektive für sie als
damals.] Sie fliehen nicht vor, sondern nach Europa. Doch die dichten Stäbe
lassen sie nicht hindurch, schieben sich langsam über den immer schmaler
werdenden Quay. Wie lang noch, bis die Richtung sich wieder umkehrt?
6 Nov 2025
## LINKS
DIR [1] /Filmstart-von-deutschem-Berlinale-Beitrag/!5492881
DIR [2] /Solidaritaet-auf-Lampedusa/!5959750
## AUTOREN
DIR Henriette Hufgard
## TAGS
DIR Berliner Ensemble
DIR Anna Seghers
DIR Transit
DIR Politisches Theater
DIR Serien-Guide
DIR Christian Petzold
DIR Romanverfilmung
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR Netflix-Serie „Transatlantic“: Feuchter Traum der Amis
Die Historienserie „Transatlantic“ erzählt von Fluchthelfern in Marseille
1940/41. Die Inszenierung zeigt die frankophile Obsession der Amerikaner.
DIR Filmstart von deutschem Berlinale-Beitrag: Auf der Flucht sieht man mehr
Das Drehbuch zu „Transit“ basiert auf Anna Seghers' gleichnamigem
Exilroman. Christian Petzolds Spielfilm ist ein künstlerischer Kommentar
zur Zeit.
DIR Romanverfilmung im Wettbewerb: Aus der Zeit gefallene Flüchtlinge
„Transit“ von Christian Petzold verändert den Blick auf das Thema Flucht
durch ein intelligentes Spiel mit Geschichte und Gegenwart.