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       # taz.de -- Nordische Filmtage Lübeck: Traurig, aber schön
       
       > Ein Hang zu Melancholie zeichnet das Programm der Nordischen Filmtage
       > Lübeck aus. Das skandinavisch-baltische Kino ist ein Krisenseismograf.
       
   IMG Bild: „Einmal wirst Du einer von denen sein, die vor langer Zeit gelebt haben“: Dokumentation eines Weltuntergangs im Kleinen
       
       Geballte Schwermut in Lübeck: „Die Menschheit hat den Verstand verloren“,
       „Das letzte Paradies auf der Erde“ und „Einmal wirst du einer von denen
       sein, die vor langer Zeit gelebt haben“ lauten auf Deutsch drei Titel aus
       dem Programm der diesjährigen Nordischen Filmtage. Sie sind am Sonntag zu
       Ende gegangen. Gezeigt wurden, [1][das macht den besonderen Reiz des
       Festivals aus,] vor allem Produktionen aus den nordischen und baltischen
       Ländern.
       
       Nun war nicht das gesamte Filmprogramm von Endzeitstimmung geprägt. Aber es
       fiel schon auf, dass etwa unter den 13 Spielfilmen im Hauptwettbewerb nur 2
       Komödien zu finden waren, darunter mit „Therapie für Wikinger“ von Anders
       Thomas Jensen auch der Eröffnungsfilm.
       
       Gerade [2][in den baltischen und nordischen Ländern] beeinflussen die
       Krisen, infolge der geografischen Nähe zum Krieg in der Ukraine einerseits
       [3][und andererseits wegen der besonders starken Klimaabhängigkeit von
       Landwirtschaft und Fischfang in Skandinavien], die Lebensumstände von
       vielen Menschen. Filme wirken in solchen Zeiten oft wie seismologische
       Sonden. Und dies in teils ganz erstaunlichen Kontexten: Im
       deutsch-skandinavischen Dokumentarfilm „Astrid Lindgren – Die Menschheit
       hat den Verstand verloren“ von Wilfried Hauke, der in der Reihe „Specials“
       Weltpremiere feierte, werden zum Beispiel die von 1939 bis 1945 geführten
       Kriegstagebücher der Kinderbuchautorin vorgestellt: Schweden war damals
       neutral. Lindgrens Beobachtungen, Ängste und Analysen haben heute einen
       überraschenden Resonanzraum. Ihre Tochter spricht es sogar im Film direkt
       an: „Das war für Astrid genauso, wie es uns jetzt mit der Ukraine ging“,
       sagt sie an einer Stelle.
       
       Der Film hat drei Ebenen. Auf einer rezitiert eine Schauspielerin
       ausgewählte Einträge aus den Notizbüchern Astrid Lindgrens, auf der zweiten
       erzählen deren Tochter und Urenkel davon, wie sie Astrid Lindgren erlebt
       haben und auf der dritten Ebene bekommen die Schrecken des Krieges und der
       Naziherrschaft mit zum Teil noch nie öffentlich gezeigten historischen
       Archivbildern eine erschütternde Präsenz.
       
       ## Übermensch in Form eines kleinen Mädchens
       
       Astrid Lindgren war damals noch keine publizierte Schriftstellerin. Statt
       dessen arbeitete sie in der schwedischen Zensurbehörde, wo sie in
       Auslandspostsendungen jene Passagen schwärzte, durch die kriegswichtige
       Informationen über Schweden an die Deutschen hätten weitergegeben werden
       können. So war sie gut über den Krieg und die Zustände in Deutschland
       informiert und konnte erstaunlich hellsichtige Analysen schreiben.
       
       Ganz nebenbei wird in dem Film auch die Entstehungsgeschichte ihres ersten
       Romans und größten Erfolgs „Pippi Langstrumpf“ erzählt, deren Ursprung die
       Gutenachtgeschichten waren, die sie ihrer oft kränkelnden Tochter erzählte.
       Und dabei erfand sie dieses anarchistische Supergirl als einen Gegenentwurf
       zum deutschen Herrenmenschen. Sie selber nennt sie in einer Art
       Beipackzettel für die schwedischen Verleger einen „Übermenschen in der Form
       eines kleinen Mädchens“.
       
       „Das letzte Paradies auf Erden“ (Det sidste paradis på jord) lief im
       Spielfilmwettbewerb und ist [4][einer der wenigen Filmen, die auf einer der
       Färöer-Inseln und in der Sprache der dort lebenden Menschen gedreht]
       wurden. Der Regisseur Sakaris Stórá hat dort selbst in seiner Jugend gelebt
       und in einer Fischereifabrik gearbeitet. Und so erzählt er hier von jungen
       Menschen auf der Insel Suðuroy, die ihre Arbeit und ihre Zukunft auf der
       Insel verlieren, da durch den Klimawandel im wärmeren Meer immer weniger
       Fische gefangen werden.
       
       So schließen die einzigen Arbeitsplätze der Region. Stórá bringt es im
       Filmgespräch in Lübeck witzig auf den Punkt, wenn er sagt, auf den Inseln
       lasse sich nur mit „Fisch und Lachs“ Geld machen. Der Film ist eine
       feinsinnige und mit viel Liebe zu den Menschen und ihrer Heimat inszenierte
       Coming-Of-Age-Geschichte, in der von einer Handvoll junger Menschen erzählt
       wird, die lernen müssen, damit zu leben, dass sie gerade aus ihrem Paradies
       vertrieben werden.
       
       ## Der Untergang einer Welt
       
       „Einmal wirst Du einer von denen sein, die vor langer Zeit gelebt haben“
       (En gång skall du vara en av dem som levat för längesen) ist schließlich
       ein schwedischer Film, der im Dokumentarfilmwettbewerb lief. Die beiden
       Regisseure Alexander Rynéus und Per Bifrost dokumentieren hier den
       Untergang einer Welt – und zwar nicht allegorisch, sondern ganz konkret.
       Die nordschwedische Kleinstadt Malmberget liegt am Rand einer Eisenmine und
       dadurch wurde der Boden unter ihr so untergraben, dass Einsturzgefahr für
       die Häuser besteht.
       
       Die Filmemacher haben einige von den letzten BewohnerInnen einer
       Geisterstadt porträtiert, denn die meisten Menschen von dort sind schon
       umgesiedelt worden. Der Film ist eine melancholische Meditation über das
       Vergehen – mit grandios fotografierten Bildern von der Stadt, die immer
       mehr verschwindet und den Menschen, die sich notgedrungen mit einer der
       großen philosophischen Fragen konfrontiert sehen: Wer sind wir, und wo
       gehen wir hin?
       
       9 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Wilfried Hippen
       
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