# taz.de -- Nachruf auf Micha Brumlik: Ein Linker mit präzisen, tiefenscharfen Analysen
> Wie nur wenige verstand Micha Brumlik es, Tagespolitisches mit
> theoretischen Reflexionen zu verbinden. Zum Tod des jüdisch-deutschen
> Intellektuellen.
IMG Bild: Seine wahre Heimat war die jüdische, aufklärerische Geistesgeschichte: Micha Brumlik starb am Montag mit 78 Jahren
In einem [1][seiner späten Texte für die taz], veröffentlicht Weihnachten
2021, betrieb Micha Brumlik Bibelexegese mit aufklärischem Impuls. Dass die
Jesusgeschichte von Flucht und Vertreibung handelt, ist bekannt. Aber sie
beerbt, so Brumliks Hinweis, die rund 3.000 Jahre alten alttestamentlichen
Narrative von Abraham und Moses, die „von Missbrauch und Ausbeutung der
Flüchtlinge erzählen“.
Als Kronzeugen tauchen in diesem kurzen Text nicht zufällig [2][Hannah
Arendt] und der Soziologe [3][Georg Simmel], beide jüdischer Abstammung,
auf. Für Brumlik, selbst jüdischer Deutscher, war das Gefühl des Fremdseins
existenziell. Daraus leitete er die Überzeugung ab, dass das Judentum der
Aufklärung und dem Universalismus verpflichtet sei. „Unser heutiges Europa
sollte ein Kontinent der Ankunft, der Gastfreundschaft für die Fremden
werden“, schloss er seinen wenig besinnlichen Weihnachtstext.
Brumlik, 1947 in der Schweiz als Sohn von Hitler vertriebener jüdischer
Deutscher geboren, war ein 68er und undogmatischer Linker in Frankfurt.
Anders als [4][Joschka Fischer] blieb er allerdings immun gegen die
[5][Verlockungen der Militanz]. Universell gebildet, beherrschte er die
Religionswissenschaft ebenso souverän wie die Kritische Theorie und den
Marxismus. Er gehörte zur Post-68er-Szene, unterstützte das Sozialistische
Büro und saß für die Grünen im Frankfurter Stadtparlament. Ein linker
Bürger – doch mit einem weiteren Horizont als die erst linksradikale,
später grüne Szene.
Ein Fixpunkt war das wechselvolle Verhältnis zu Israel. 1967, mit 19
Jahren, ging er nach Israel, kehrte jedoch nach dem Sechstagekrieg und der
Besetzung des Westjordanlands als Antizionist zurück. Texte für das
Frankfurter [6][Sponti-Stadtmagazin Pflasterstrand] versah er auch mal mit
dem Slogan „Solidarität mit der PLO“. In den 1980er Jahren änderte er seine
Haltung, auch wegen antisemitischer Untertöne im Antizionismus des
deutschen Linksradikalismus.
Unterschwelligen Antisemitismus erlebte er selbst, bei einer Demo im
Frankfurter Häuserkampf in den 70er Jahren, die sich auch gegen jüdische
Kaufleute richtete. Damals legte ein späterer Linkspartei- (und heute
Ex-)Genosse tröstend den Arm um seinen Hals und sagte: [7][„Ach, Micha, du
bist doch ganz anders als die ganzen anderen Juden.“]
## Die Verwandlung der Grünen kommentierte er spöttisch
1991, als der Irak Scud-Raketen auf Israel abfeuerte, lehnte die damals
noch pazifistische Grünen-Spitze die Lieferung von Anti-Scud-Raketen an
Israel ab. Brumlik trat aus Protest gegen die wenig geschichtsbewusste
Haltung der Partei aus.
Er blieb, anders als manche Weggefährten, in Gerechtigkeitsfragen immer ein
Linker. Die Verwandlung der Grünen von einer aufrührerischen linken
Organisation in eine brave liberale Staatspartei kommentierte er mit Spott.
Allerdings ohne jene säuerliche Bitterkeit, mit der manche Enttäuschte den
Weg der Grünen in die Mitte bedachten.
Brumlik, von Berufs wegen Professor für Erziehungswissenschaften, kam dem
nahe, was [8][Antonio Gramsci] einen organischen Intellektuellen genannt
hatte – allerdings ohne die marxistische Fortschrittsteleologie. Sein
Aktionsradius reichte weit über das Universitäre hinaus. Er engagierte sich
in Frankfurt dafür, die jüdische Tradition zu bewahren und Reste des
Ghettos am Börneplatz nicht unter Neubauten verschwinden zu lassen. 2000
wurde er in Frankfurt Direktor des [9][Fritz-Bauer-Instituts], das ein
Thinktank für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit wurde.
Vor allem verstand Brumlik es wie wenig andere, tagespolitische
Intervention mit scharfsinnigen theoretischen Reflexionen zu verbinden. Er
prüfte sie stets an den Prinzipien der Aufklärung und der jüdischen
Denktradition.
## Früh kritisierte er Netanjahus Israel
Universalismus war für ihn unverhandelbar. Früh sah er die problematische
Entwicklung Israels unter Netanjahu, der 2014 Israel zum „Staat des
jüdischen Volkes“ erklärte. Brumlik erkannte er darin die Verwandlung des
zionistischen Staates in eine Ethnokratie, in der die ethnische
Diskriminierung letztlich das demokratische Grundprinzip der Gleichheit
zerstört.
Die bohrende Frage lautet, ob Israel definiert als jüdischer Staat eine
Demokratie bleiben kann. Dieser Prozess, so Brumliks Prognose, würde die
jüdische Diaspora von Israel entfremden.
Brumlik warnte auch vor einer Verengung des Meinungskorridors in
Deutschland in Sachen Israel. In dem [10][Anti-BDS-Beschluss des
Bundestages 2019] erkannte er, der präzise, tiefenscharfe Analysen auch mal
mit ad hoc einleuchtenden Buzz-Worten zu plausibilisieren verstand, einen
heraufdämmernden „McCarthyismus“– eine deutsche Variante jener
berüchtigten, antiliberalen Hetzjagd auf Kommunisten in den USA der 50er
Jahre.
2021 war er Mitverfasser der „Jerusalem Declaration on Antisemitism“, die
anders als die gängige Definition der IHRA (International Holocaust
Remembrence Association), den Antisemitismus-Begriff vor
Instrumentalisierungen durch die israelische Regierung schützen sollte.
## Publizistisches Gespür für das, was sich anbahnt
Das Wort Vordenker ist wahrscheinlich zu Recht in Vergessenheit geraten.
Allzu oft schmückt es Trendintellektuelle, die vor allem die Klaviatur der
Aufmerksamkeitsökonomie beherrschen. Wohl verstanden bezeichnet das Wort
die Fähigkeit, etwas zu begreifen und auf den Begriff zu bringen, was
andere erst dunkel ahnen. Brumlik verband das publizistische Gespür für
das, was sich anbahnt, mit enzyklopädischer Kenntnis intellektueller
Traditionslinien von der Tora bis zu Adorno.
Mit Israel verband ihn kritische Solidarität. Er war ein deutscher Linker,
ein jüdischer Deutscher und ein Bürger Frankfurts. Doch seine wahre Heimat
war die jüdische, aufklärerische Geistesgeschichte.
Micha Brumlik ist am Montag mit 78 Jahren nach langer Krankheit gestorben.
11 Nov 2025
## LINKS
DIR [1] /Fluechtlinge-in-der-Weihnachtsgeschichte/!5821266
DIR [2] /Stueck-ueber-das-Leben-der-Philosophin/!6124709
DIR [3] /Die-Religion-des-Westens/!1133268/
DIR [4] /!vn6017440/
DIR [5] /Stern-ueber-Fischers-Vergangenheit/!5070044
DIR [6] /Stadtmagazin-Journal-Frankfurt/!5179014
DIR [7] https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/820533_Brumlik_Antisemitismus_bpb_Innenteil_S_I-VI_1-11.pdf
DIR [8] /Buch-ueber-Antonio-Gramsci/!5794267
DIR [9] /25-Jahre-Fritz-Bauer-Institut/!5654860
DIR [10] /Kommentar-BDS-Votum-im-Bundestag/!5596313
## AUTOREN
DIR Stefan Reinecke
## TAGS
DIR Nachruf
DIR Micha Brumlik
DIR Judentum
DIR Israel
DIR Bündnis 90/Die Grünen
DIR GNS
DIR Reden wir darüber
DIR Micha Brumlik
DIR Thessaloniki
DIR Podcast „Mauerecho“
DIR NS-Gedenken
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR Micha Brumlik über die Asylrechtsdebatte: Schreibtischtäter
Politiker aller Parteien, die die Asyldebatte führten und führen, sind für
die drei Toten von Mölln mitverantwortlich.
DIR Nazi-Verbrechen in Thessaloniki: Stadt aus Grabsteinen
Die Nazis haben den jüdischen Friedhof von Thessaloniki zerstört. Bis heute
sind die Grabsteine überall in der Stadt verstreut. Ein Fotograf
dokumentierte die Orte.
DIR Jüdisches Leben im geteilten Deutschland: Brüche, Erinnerung, Zukunft
Wie lebten Jüd*innen in Ost- und Westdeutschland und in der
Nachkriegszeit? Ein Gespräch mit Marion Brasch und Meron Mendel über
deutsche Identität.
DIR NS-Gedenken in Berlin: Was bleibt, und wer nicht
An einer Hausfassade in Tiergarten wird an die jüdische Schriftstellerin
Gabriele Tergit erinnert. Die Gedenktafel in wird am 8. Oktober enthüllt.