# taz.de -- Die Wahrheit: Sehr, sehr viele Haare auf wenig Haut
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (232): Seeotter sind
> sympathische Raubtiere auf großer Fahrt im weiten Meer.
IMG Bild: Gern lassen sich Seeotter auf dem Rücken liegend treiben
Die Seeotter leben im Nordpazifik. Sie zählen zu den größten Marderarten.
Zwischen den Zehen ihrer Hinterbeine haben sie Schwimmhäute und sie trinken
Salzwasser, da ihre Nieren das Salz ausscheiden können. Weil sie keine
dicke Fettschicht besitzen, aber in den kalten Gewässern des Beringmeers,
auf den Aleuten und den Kommandeurinseln leben, haben sie ein extrem
dichtes Fell. Auf einem Quadratzentimeter Haut wachsen ihnen 130.000 Haare.
Ihr Fell wäre ihnen fast zum Verhängnis geworden.
Als die zweite russische Kamtschatkaexpedition 1733 bis 1743 unter der
Leitung des dänischen Kapitäns Vitus Bering die nördlichen Küsten Russlands
erkundete und Alaska annektierte, entdeckte der mitgereiste deutsche
Naturforscher Georg Wilhelm Steller Seeotter und Seekühe. Bering und
Steller starben auf der Expedition. Die Meerenge wurde nach Bering benannt,
die Seekühe nach Steller. Kurz nach ihrer Entdeckung wurden diese von
Pelztierjägern zu Nahrungszwecken ausgerottet. Die Seeotter wurden wegen
ihres wertvollen Pelzes fast ausgerottet.
Als 1911 die kommerzielle Jagd eingestellt wurde, waren 99 von 100 Seeotter
getötet worden. „Nur wenige hundert Tiere in isolierten Populationen in
Kalifornien, Alaska, Russland und Japan hatten überlebt“, schreibt der
US-Meeresbiologe Joe Roman (in: „Eat Poop Die“, 2014). Weil sich die Jagd
auf sie nicht mehr lohnte, hatte Russland seine Kolonie Alaska bereits 1867
an die USA verkauft.
Seeotter sind sympathische Raubtiere. Die Touristen lieben sie. Zudem sind
sie nicht besonders scheu. Sie lassen sich gern auf dem Rücken liegend im
Wasser treiben, verpaaren sich Bauch an Bauch und tragen auch ihre Jungen
gern auf dem Bauch, während die Mutter ihnen das Fell pflegt. Ihre Nahrung,
unter anderem Muscheln, legen sie sich ebenfalls auf den Bauch. Um an das
Fleisch zu gelangen, zerschlagen sie die Schalen mit einem Stein, mit dem
sie an Land auch spielen. „Seeotter schlafen im Wasser und umwickeln sich
vorher mit Seetang, um nicht abgetrieben zu werden“, heißt es auf
Wikipedia. „Auf diese Weise schützen Muttertiere auch ihre Jungen, wenn sie
sie während eines Tauchgangs an der Wasseroberfläche zurücklassen müssen.“
Über viele Tiere wird gesagt, dass sie „perfekt an ihre Umwelt angepasst“
sind. Folgt man Nietzsche, muss man die Anpassungsthese der Biologen jedoch
verwerfen: Jedes Mal, wenn sich ein Lebewesen von der äußeren Wirklichkeit
ernährt, ist es das Wirkliche, das sich dem Lebendigen anpasst und nicht
umgekehrt. Am Beispiel von Seeottern hat Joe Roman dargestellt, wie eine
neue Umwelt sich ihnen anpasst – nicht nur durch ihre Ernährungsweise,
sondern auch durch ihre Ausscheidungen.
Nach Einstellung der Jagd erholten sich die Otterpopulationen langsam
wieder, aber 1965 genehmigte der US-Präsident drei unterirdische
Atombombentests auf der zu den Aleuten zählenden Insel Amchitka. Dagegen
gründete sich damals die Umweltschutzorganisation Greenpeace, und der
Biologe des Bundesstaates Alaska, John Vania, rechnete den Verantwortlichen
vor, wie viele Seeotter in der Population auf Amchitka bei den Atomtests
sterben würden. Er schlug vor, sie zu evakuieren – unter anderem nach
Südost-Alaska. Man stellte daraufhin den Otterrettern ein Großraumflugzeug
zur Verfügung, das 50 Otter auf einmal in die von Russen gegründete
Alaskasiedlung Sitka transportieren konnte.
Die Tiere wurden mit Netzen gefangen. In Sitka lud der Biologe Jerry Dipka
die gestressten und vollgekoteten Seeotter in ein Wasserflugzeug, das sie
zu ihren neuen Habitaten an der Westküste bis nach Kalifornien flog – 710
Tiere insgesamt. Weitere 43 Amchitka-Otter wurden auf Vancouver Island
freigelassen. 3.000 Otter waren auf Amchitka zurückgeblieben, von ihnen
überlebte nur jeder zehnte den Atomtest 1971. Der angehende Ökologe Jim
Estes hatte die Aufgabe, diese Otter vor und nach der Explosion zu zählen –
vom Ufer aus und mit einem Militärhubschrauber. „Die schwierigste Aufgabe
für Estes war es, die Meeressäugetiere zu fangen und sie mit einem Sender
zu versehen … 50 Jahre später hatte er davon noch immer Narben an den
Händen.“
Vor den Fangaktionen untersuchte Estes, wie sich die Otter auf die
Seetangwälder ausgewirkt hatten. „Er bereiste die Aleuten und erkundete die
Unterschiede zwischen Inseln mit vielen Ottern wie Amchitka und anderen,
otterlosen Inseln … Auf den Otterinseln gab es ausgedehnte Tangwälder,
größtenteils unbeweidete Flächen mit Braunalgen, mit spärlichen
Populationen von Seeigeln, Seepocken und Muscheln. Die otterlosen Inseln
waren fast tangfrei, anstelle von Algen gab es riesige Muschelbänke,
Seepocken und jede Menge Seeigel.“ Diese ernährten sich von den
Tangpflanzen, „wobei sie deren Haftorgane fressen, die die Algen am
Meeresboden festhalten. Sobald der Seetang losgeschnitten ist, stirbt er
jedoch ab. So schaffen sich die Seeigel Brachen fast ohne Seetang, aber
dafür mit einer Überpopulation ihrer eigenen Art. Indem sie die Seeigel
fressen, reduzieren Otter ihren Verzehr der Makroalgen, wodurch die
Tangwälder gedeihen können“, die dann wieder zur „Kinderstube und Heimat
für Hunderte von Fisch- und Wirbellosenarten“ wird.
„Die Anwesenheit der Otter veränderte alles … Die Umsiedlungen einer
gefährdeten Art gaben letztlich Aufschluss darüber, wie die
Wiederherstellung einer einzelnen Art zu einer ökologischen Transformation
führen kann.“ In Sitka, dem ehemaligen Zentrum des Pelzhandels, werden nun
Touristenfahrten angeboten, um von Booten aus Seeotter, Papageientaucher
und Wale im Sitka Sound zu beobachten.
In den Jahrzehnten seit ihrer Evakuierung ist die Otterpopulation im
Nordpazifik wieder auf etwa 125.000 Tiere angewachsen. Zwischen 1988 und
2003 fraßen sie 99 von 100 Seeigeln im Sitka Sound und die Tangwälder
nahmen in der Region um mehr als 99 Prozent zu. Sie bieten Nahrung und
Schutz für mehr als 800 Arten. Alle scheiden Stickstoff in die umliegenden
Gewässer aus, die der Seetang aufnehmen kann. „Das passiert nicht in einem
unfruchtbaren Seeigel-Ödland“, schreibt Joe Roman.
Er schlägt vor, in den Wildtieren fürderhin eine andere Art von Nutztieren
zu sehen, das heißt, dass wir sie „mehr für die von ihnen erbrachten
Leistungen schätzen – CO₂-Minderung, Nährstoffeinbringungen,
Wiederherstellung von Ökosystemen, all die wunderbaren Dinge des tierischen
Kreislaufs – als für die Produkte, die wir von ihnen erhalten, wie Fleisch,
Milch und Fell.“ Die Indigenen im Norden dürfen die Seeotter nach wie vor
wegen ihres Fells verfolgen. Man räumte ihnen eine Jagdquote ein. Ein Pelz
kostet 300 bis 2.000 Dollar.
29 Dec 2025
## AUTOREN
DIR Helmut Höge
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