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       # taz.de -- Keine Angst, Torero
       
       > Pedro Lemebel, Santiago de Chiles selbst erklärte Tunte der Apokalypse,
       > nimmt in seinen Romanen schwule Rache an der Pinochet-Zeit. Er erzählt
       > von den repressiven Verkehrungen sexueller Begierden als Ausgangspunkt
       > individuellen Leids
       
       VON ANDREAS FANIZADEH
       
       Die Buchhandlung „Metales Pesados“ befindet sich im so genannten
       Schwulenviertel Santiago de Chiles. Hier im Zentrum der chilenischen
       Hauptstadt am Fuße des Cerro Santa Lucia konnte sich eine kleine städtische
       Sub- und Alternativkultur entwickeln. Zwischen Geschäftszentrum und
       Vergnügungsviertel am Rio Mapocho macht fast täglich ein neues Café, eine
       Internetbude oder ein Secondhandgeschäft auf. Auch „Metales Pesados“ gibt
       es erst seit einem halben Jahr, sagt Sergio Parra.
       
       Der kompetente Buchhändler und Dichter versieht mit seiner Partnerin ein
       idealistisches Geschäft. In Chile nimmt – im Gegensatz etwa zu Argentinien
       – nur noch eine Minderheit am literarischen Leben teil. Für diese hält
       „Metales Pesados“ gleich sieben Tage die Woche die Türe offen. Im Regal
       hinter der Kasse steht ein Bild des Philosophen Walter Benjamin, gezeichnet
       vom Künstler Fernando Bryce. Die Chroniken Pedro Lemebels liegen in dicken
       Stapeln am Eingang, daneben Gedichtbände oder theoretische Schriften von
       Nelly Richard; das Sortiment an aktuellen chilenischen Kulturmagazinen wie
       Rocinante oder La Calabaza del Diablo ist beeindruckend.
       
       „Metales Pesados“ ist ein leuchtendes Sternchen an Santiagos
       Intellektuellenhimmel, Lärm umflutet und eingesmogt an der Avenida José
       Miguel de la Barra. Wenige hundert Meter weiter unten stehen nachts die
       Stricher, tagsüber verstopfen Verwaltungsangestellte und DienstleisterInnen
       die Boulevards. Zu den „Stammgästen“ der Buchhandlung gehört auch Pedro
       Lemebel. Das Enfant terrible der chilenischen Gegenwartsliteratur ist mit
       Buchhändler Sergio Parras befreundet und wohnt gleich um die Ecke. Das ist
       nicht nur in Hinsicht auf „Metales Pesados“ strategisch sehr günstig. Ist
       die Sonne erst einmal untergegangen, braucht die schwule Diva nur fünf
       Minuten, um in der anderen Richtung ins „El Toro“ zu gelangen. Die Bar
       jenseits des Rio Mapocho im Ausgehviertel Bellavista steht ganz im Banne
       Lemebels. Insignien und Kritzeleien an den Wänden können dies belegen.
       Weltanschluss und queerer Lifestyle haben jedoch auch im „El Toro“ ihren
       Preis: Ein Pisco-Sour, das chilenische Start-up-Getränk aus Trester und
       Limonensaft, kostet hier fast ebenso viel wie anderenorts eine gute Flasche
       Wein.
       
       Pedro Lemebel kreist heute durch das öffentliche Leben Santiagos wie einst
       die Hubschrauber Augusto Pinochets. Dies auch, wenn es ihm laut
       Selbstauskunft zurzeit weniger gut geht. „Sabeis niños que estoy muy
       enfermo“ – „Wisst ihr, Kinder“, sagt er um Mitleid heischend, „ich bin sehr
       krank. Ich trinke zu viel.“ In der satirischen Wochenschrift The Clinic,
       der erfolgreichsten Magazingründung seit Putsch und Sankt Allende, pflegt
       Lemebel regelmäßig seine alltäglichen Erlebnisse und Beobachtungen
       auszubreiten. Gerade berichtet er über einen Ausflug in die Wüstenstadt
       Calama im hohen Norden. In den Augen ehrbarer ChilenInnen gilt der Ort in
       der Atacama-Wüste als „mediocomplicado“, als verrufen und gefährlich. Auf
       2.400 Meter Höhe ist Calama Relaisstation und Freudenhaus für die Arbeiter
       der weltgrößten Kupfermine in Chuquicamata.
       
       Für das Bild in The Clinic (der Name der Zeitschrift ist ein Scherz auf die
       vorübergehende Festsetzung und Einlieferung des senilen Diktators Pinochet
       in eine Londoner Klinik 1999) posiert Lemebel an dem Geländer der
       Besucherplattform in Chuquicamata. Eine populäre Aufnahme. Lemebel hat die
       Mähne zurückgebunden, die Augen sind verkniffen – das gleißende Licht
       blendend in der Höhe. Im Hintergrund ist der drei Kilometer weite und
       momentan 500 Meter tiefe Krater der Hauptmine Chuquicamatas zu sehen, einer
       umgekehrten Pyramide ähnelnd, pulsierendes Herz und Frequenzgeber der
       chilenischen Wirtschaft.
       
       Für den „irgendwann“ in den Fünzigerjahren geborenen Lemebel die ideale
       Kulisse für eines seiner amourösen Abenteuer in The Clinic. Außerhalb der
       Innenstadtbezirke Santiagos ist das Leben eines „Maricon“, einer
       Schwulette, in Chile immer noch sehr riskant. „Neochronist“ Lemebel erzählt
       in The Clinic, wie er der Einladung zu einer Lesung nach Calama folgt, dort
       die Hotelordnung umgeht und den jungen Nachtportier verführt. Keine
       Kleinigkeit für ein stockkatholisches Land, in der die Homosexualität erst
       seit 1998 kein Verbrechen mehr darstellt und Sekten wie das Opus Dei
       tatsächlich einen gewaltigen öffentlichen Einfluss ausüben.
       
       Die sexuellen Beziehungen und Begierden sind das Lebenselixier des
       Schriftstellers Pedro Lemebel, ihre Verneinung und repressive Verkehrung
       der Ausgangspunkt individuellen Leids und gesellschaftlicher Tragödien. In
       seinem Roman „Tengo miedo torero“ (deutscher Titel: „Träume aus Plüsch“)
       verknüpft Lemebel die sentimentale Liebesgeschichte einer Tunte mit den
       Albträumen des schwächelnden Diktators. Es ist das Jahr 1986,
       Tränengasschwaden wehen durch Santiagos Straßen. Señora Lucy, die Gattin
       des Diktators, lässt sich von Nina Ricchi oder Chanel neue farbige Hüte
       schicken; der von der internationalen Kritik gedemütigte Pinochet labt sich
       in grauer Uniform an seinen Lieblingsmärschen, und die Frente Manuel
       Rodríguez bereitet ihr Attentat im Cajón del Maipo vor, der, so Lemebel,
       nach „Fichte, Eukalyptus und Kuhfladen“ riecht.
       
       „Es seien nur Bücher, verbotene Bücher, hatte er gesagt mit seinem feuchten
       Lilienmund.“ Lemebel erzählt die Liebe zwischen dem jungen Carlos und der
       „Tunte von der Front“. Die Tunte überlässt Carlos und den linken
       Guerilleros von der Frente Manuel Rodríguez ihr Haus als Unterschlupf. Ihr
       extravagantes Auftreten scheint die perfekte Tarnung. Zwischen Carlos und
       der Tunte entwickelt sich eine auf Funktionalität und wirklicher Zuneigung
       gründende Beziehung. Wäre da nicht die Planung für das Attentat, die beiden
       wären sich nie nahe gekommen; wäre da nicht dieses Attentat, die beiden
       könnten sich näher kommen. Eine vergebliche Liebe, auch andere Situationen
       erfordern die ganze Leidenschaft und Konzentration.
       
       Die Tunte spielt – halb freiwillig, halb unfreiwillig – ihr doppeltes
       Spiel, mit papihafter Missachtung und unterdrückt lauerndem Begehren.
       Lemebel schöpft gerne aus kleinen Begebenheiten, Regelverstößen, populären
       Handlungen. „Tengo miedo torero“ (Ich habe Angst, Torero) könnte mit seiner
       konspirativen schwulen Hauptfigur auch als Rache an der bigotten, prüden
       Klassenkampflinken gelesen werden. Ist die Geschichte der Tunte und des
       verliebten Guerilleros reine Fiktion, fragen wir den Autor. Nein, es gäbe
       historisch-biografische Überschneidungen, lässt er wissen.
       
       Auch anderes ließe sich historisch dokumentieren. Die privaten Dramen bei
       Pinochets zu Hause. Die Märsche, Zinnsoldaten, Hüte, schwulen Kadetten,
       Sonnenbrillen, die Angst und das Geplapper seien in seinem Buch noch sehr
       zurückhaltend ausgeführt. Die Banalität des Pinochet-Chile angemessen
       darzustellen sei eine echte Herausforderung gewesen. Zumindest die
       ausländische Kritik scheint sich einig: Es ist ihm gelungen. Wo früher die
       Kameras und Mikros ausgeschaltet wurden, dreht er sie wieder an. Señora
       Lucy und El Grand General Augusto allein zu Haus: „Mensch, bist du immer
       noch nicht aufgestanden? Du wirst noch in deinem Bett vermodern. Der Schrei
       seiner Frau weckte ihn schlagartig auf. Doch diesmal war er dankbar für den
       Schreck, den ihm die blecherne Stimme verursacht hatte, weil sie ihn mit
       einem Streich in die Gegenwart zurückholte. Noch steckte ihm der Ekel von
       jener Torte im Hals …“
       
       Die Pinochets werden wie die Osbournes Teil einer öffentlichen Soap.
       Lemebel gibt den einfühlenden Talkmaster, lässt die Prominenz
       schwadronieren und dem Volk aufs Maul schauen. „Ich hasse Gedichte, das
       habe ich diesem idiotischen Journalisten gesagt, der mich gefragt hat, ob
       ich Neruda lese“, sinniert ein grimmiger Diktator. Dessen Wege kreuzen sich
       immer wieder mit denen der AttentäterInnen, Kadetten mit „prallroten
       Lippen“ infiltrieren seine Leibgarde. Chile ist klein und die Welt
       ungerecht. „Als er aus der Präsidentenkarosse stieg, umringt von
       Leibwächtern, Fotografen und Journalisten, hörte er von ganz oben auf dem
       Rohbau ein Geschrei und dachte in seiner Naivität, es wären Arbeiter, die
       ihn hochleben ließen, also hob er beide Hände, um den Gruß zu erwidern, bis
       er schließlich genauer hinhörte: PINOCCHIO, ZIEH LEINE, SONST MACHEN WIR
       DIR MÖRDER BEINE. Die Wut war ein Hitzeschwall …“
       
       Lemebel, der gerne mit Kitsch und Pathos spielt, bezeichnet seine Texte als
       „Bastard-Literatur“. Er mischt sie aus verschiedenen Genres, Journalismus,
       Memoiren, Radio, populärer Musik, urbaner Poetik. Noch während der Diktatur
       suchte er nach einer „antipolitischen“ Sprache der Kritik und gründete mit
       Freunden „Die Tunten der Apokalypse“. Sie ritten zu Mittag nackt über einen
       Universitätscampus in Santiago (der Rektor war damals ein General) oder
       fielen in Travestiebekleidung beim Kongress der Kommunistischen Partei ein.
       Inszenierung und Selbstinszenierung, der öffentlich gelebte
       Existenzialismus hinterlässt seine Spuren. Lemebels Freunde sind um den hin
       und wieder ziemlich fragilen Star rührend besorgt. Aber wehe, man erwischt
       den Meister gerade auf dem falschen Fuß. Dann heißt es: „Punto, basta, hoy
       no trabajo. Ciao.“ „Punkt, Aus, Schluss, heute wird nicht gearbeitet.
       Tschüss.“
       
       Literarisch nehmen auch andere – sehr unterschiedliche – Autoren wie
       Alberto Fuguet, Luís Sepúlveda oder Ramón Díaz Eterovic Rache am alten
       Chile. Doch kaum jemand schreibt derzeit so hinreißende Sätze wie Lemebel:
       „Es war das Ende, die Liebesgeschichte verlor ihre Blätter wie eine
       Magnolienblüte, die von einem Auto platt gefahren wird.“ Konsul wie einst
       Pablo Neruda will heute hingegen wohl keiner mehr werden.
       
       Pedro Lemebel: „Träume aus Plüsch“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2002, 200
       Seiten, 8,50 €
       
       7 Jul 2004
       
       ## AUTOREN
       
   DIR ANDREAS FANIZADEH
       
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