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       # taz.de -- Frauen in der Türkei: Erst Familienschutz, dann Frauenrechte
       
       > Frauen kritisieren, dass das neue Gesetz gegen häusliche Gewalt nicht
       > weit genug geht. Täglich werden in der Türkei fünf Frauen von ihren
       > Angehörigen ermordet.
       
   IMG Bild: Ob das neue Gesetz diese Mädchen vor brutalen Ehemännern schützen kann, wird von Frauenrechtlerinnen bezweifelt.
       
       ISTANBUL taz | In der Türkei ist jetzt ein Gesetz verabschiedet worden, das
       Frauen besser vor häuslicher Gewalt besser schützen soll. Es bevollmächtigt
       die Polizei, bei Gefahr in Verzug auch ohne richterliche Anordnung sofort
       zu reagieren. Frauen, die in ein Frauenhaus flüchten, haben künftig Anrecht
       auf zweimonatige Unterbringung der Kinder.
       
       Und Männer, denen durch richterlichen Beschluss verboten wird, sich der
       Frau zu nähern, können künftig per elektronischer Fußfessel zur Einhaltung
       dieses Beschlusses gezwungen werden. Später sollen die zuständigen Behörden
       der Frau bei der Suche nach Arbeit und Wohnung helfen. Auf Anordnung eines
       Gerichtes kann einer Frau auch eine neue Identität bekommen, um sie vor
       Nachstellungen zu schützen. Außerdem sollen Polizisten speziell für
       Missbrauchsfälle geschult werden. 14 Städte sollen Gewaltpräventionszentren
       bekommen.
       
       Frauenorganisationen, die seit Jahren für ein entsprechendes Gesetz
       kämpfen, freuen sich zwar, dass es endlich soweit ist. Doch machen sie
       erneut auf die alarmierende Situation von Frauen in der Türkei aufmerksam.
       So hat sich die Zahl der innerhalb der eigenen Familien ermordeten Frauen
       in den letzten zehn Jahren um 1.400 Prozent erhöht. Waren es 2002 nach
       offiziellen Zahlen 66 ermordete Frauen, so waren es 2011 mehr als 1000.
       
       Im Schnitt werden täglich fünf Frauen von ihrem Mann, ihrem Ex-Mann, oder
       einem anderen Verwandten ermordet. Es war deshalb ganz wichtig, ein neues
       Gesetz zum besseren Schutz von Frauen zu verabschieden, sagt Dilek Karal
       von der Frauenorganisation Usak. Aber um künftige Gewalttaten zu
       verhindern, sei vor allem ein Mentalitätswandel nötig: „Der muss bereits im
       Kindergarten und in der Schule beginnen“.
       
       ## Polizei überredet die Frauen, Anzeigen zurückzunehmen
       
       Die Anwältin Hülya Gülbahar nannte gegenüber der Zeitung Radikal etliche
       Punkte, in denen die Erwartungen der von 241 Frauengruppen getragenen
       Plattform „Ende der Gewalt“ nicht erfüllt wurden.
       
       So sei ein Hauptproblem, dass Frauen von der Polizei meist dazu überredet
       würden, Anzeigen zurückzunehmen, statt dass die Frauen sofort effektiv
       geschützt würden. Das sei im Gesetz nicht berücksichtigt worden. Auch sei
       ursprünglich vorgesehen gewesen, die Zahl der Frauenhäuser in allen Städten
       zu erhöhen. Jetzt gibt es nur eine vage Absichtserklärung. Auch sei jetzt
       der gesetzliche Schutz von Lesben oder Schwulen nicht vorgesehen.
       
       Frauenrechtlerinnen klagen, dass der Geist des Gesetzes weiterhin eher auf
       den Schutz der Familie als auf die einzelne Frau ausgerichtet sei. So
       würden zwar jetzt ausdrücklich nicht mehr nur verheiratete Frauen, sondern
       auch geschiedene Frauen oder solche, die nur in einer losen Beziehung leben
       durch das Gesetz geschützt. Aber trotzdem heißt das Gesetz „Schutz der
       Familie und Vorbeugung der Gewalt gegen Frauen“ statt wie vorgesehen,
       „Schutz der Frauen und anderer Familienangehöriger“.
       
       Damit hätte der Gesetzgeber, gemeint ist die regierende,
       konservativ-islamische AKP, klar gemacht, dass für sie nach wie vor die
       Einheit der Familie oberstes Gebot ist. Auch eine Feststellung, dass beide
       Geschlechter innerhalb der Familie gleichberechtigt sind, sei nicht
       zustande gekommen.
       
       11 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Türkei
       
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