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       # taz.de -- Marco D'Eramo zur EM: „Die Deutschen ändern sich nicht“
       
       > Der italienische Autor Marco D'Eramo über die Bedeutung des Fußballs in
       > Italien, Silvio Berlusconi und Mario Balotelli. Und den Rassismus in den
       > italienischen Stadien.
       
   IMG Bild: Bei Mario Balotelli ist das mit dem italienischen Rassismus kompliziert, sagt Marco D'Eramo.
       
       taz: Herr D’Eramo, schauen wir vor der Partie der italienischen
       Nationalmannschaft gegen Kroatien kurz zurück: Wie fanden Sie das Spiel der
       Azzurri gegen Spanien? 
       
       Marco D’Eramo: In Italien ist man der Meinung, man habe ein große Spiel
       geliefert – gegen den Europameister, den Weltmeister! Ich sehe das nicht
       so. Ich habe mich bei Ukraine gegen Schweden mehr amüsiert. Eine EM ist eh
       bei weitem nicht so attraktiv wie die WM oder die Champions League. Es ist
       nicht so viel los, im Fernsehen, auch bei den Festen in den kleinen
       Städten, beim Public Viewing. Es gibt nicht dieses kollektive Delirium.
       
       Sind die Tifosi nicht sowieso mehr ihrem Club verbunden, ob nun Juventus,
       Milan oder Napoli? 
       
       Nein. Das Merkwürdigste in Italien ist, dass alle von morgens bis abends
       über Fußball reden, aber die Stadien praktisch leer sind. Es gibt eigene
       Fußballradios, die beiden größten Tageszeitungen sind Sportzeitungen. Es
       ist wie ein Tick. In Italien gibt es bekanntlich kein Bildungsbürgertum,
       das Geld in Stiftungen investieren würde, in Universitäten, Thinktanks.
       
       In Italien kaufen sich die Reichen und Neureichen wie Berlusconi, Agnelli,
       Moratti Fußballklubs. Und das ist eine zwar dumme, aber langfristige
       Investition. Denn man kann im Leben allem untreu werden, der Religion, dem
       Beruf, der Frau – aber nicht dem Verein. Das hat eine metaphysische
       Dimension. Und niemand hat das je wirklich befriedigend erklärt. Es gibt
       kein wirklich wichtiges Buch über Fußball. Es ist eine hochkomplexe
       Materie.
       
       Silvio Berlusconi hat seine politische Karriere darauf gegründet. 
       
       Viele Leute glauben, der Schlüssel für Berlusconis Erfolg sei der Besitz
       von drei TV-Kanälen gewesen. Da ist schon was dran, aber in Wirklichkeit
       hat er sich als derjenige präsentiert, der den AC Milan in der zweiten Liga
       übernimmt und den Verein bis zum Champions-League-Sieg führt. Die Botschaft
       war: Mit Italien werde ich das Gleiche machen. Forza Italia, der damalige
       Name seiner Partei, ist auch der Schlachtruf der Tifosi für die
       Nationalmannschaft. Und die Lega Nord, die doch angeblich separatistisch
       ist und mit der Nationalmannschaft nichts zu tun haben will, hatte kein
       Problem, mit so einer Partei eine Koalition einzugehen.
       
       Aber es gab zum Beispiel 2010 Aussagen von Legachef Umberto Bossi, dass
       diese Nationalmannschaft nicht seine ist. 
       
       Das sagen aber eben nur die Leader der Lega. Die Anhänger fiebern dann doch
       mit. Und diese Leader zeigen damit nur, dass sie genauso weltfremd sind wie
       Mario Monti: ein Technokrat, der anlässlich des jüngsten Wettskandals
       meinte, man könne ja auch mal zwei, drei Jahre aussetzen mit dem Fußball.
       Eine vollkommen verrückte Idee. Man sieht, dass er keine Ahnung hat von den
       Italienern.
       
       Aber den Skandal gibt es ja. 
       
       Wettskandale gab es auch in Deutschland – und keine kleinen. Es gibt sie
       überall, das ist normal, wenn so viel Geld im Spiel ist. Wer so tut, als
       wundere ihn das, ist ein Heuchler. Aber die Italiener sind manisch, stets
       auf der Suche nach dem Komplott, nach dem, „was eigentlich dahintersteckt“,
       getreu dem berühmten Satz von Giulio Andreotti, der grauen Eminenz der
       italienischen Politik: „Es mag eine Sünde sein, immer das Schlechteste zu
       vermuten – aber meistens liegt man damit richtig.“
       
       Der auffälligste Spieler ist sicher Balotelli. Haben sich die Italiener
       daran gewöhnt, dass einer der Azzurri schwarz ist? Oder sind sie ewige
       Rassisten? 
       
       Italien ist ein extrem provinzielles Land, was die Präsenz und Wahrnehmung
       von Menschen mit schwarzer Hautfarbe angeht. Das liegt daran, dass der
       italienische Kolonialismus nie kapitalistisch war. Das hat unter anderem
       zur Folge, dass Somalis, Äthiopier und Libyer in sehr geringer Zahl in
       Italien leben. Die Einwanderung ist also ein sehr junges Phänomen.
       Balotelli ist so seltsam für die Italiener, weil er schwarz ist und mit dem
       Akzent der Stadt Brescia spricht.
       
       Natürlich sind die Italiener rassistisch, das kennt man aus den Stadien.
       Aber bei Balotelli ist die Sache komplizierter. Er macht dauernd Unsinn,
       baut Unfälle, ist in der Klatschpresse wegen seiner Frauengeschichten. Das
       wird akzeptiert, weil man es als Ausdruck seines Zorns über den Rassismus
       sieht, den er in Italien hat erleiden müssen. Der Zorn des schwarzen Jungen
       in Italien. Ist das Paternalismus? Oder einfach menschliches Verständnis?
       Ich weiß es nicht.
       
       Jetzt müssen wir über das seltsame Phänomen reden, dass die deutsche
       Mannschaft ihren Beinamen in Italien verloren hat: Früher waren sie immer
       die „Panzer“. Heute sind sie die „Spread Boys“. 
       
       Ja, weil der Spread – also der Zinsaufschlag auf die Staatsanleihen in
       Südeuropa im Vergleich zu den deutschen Anleihen – gefährlicher ist als die
       Panzer. Zynischer, unpersönlicher. Der Spread führt dazu, dass die
       Deutschen diktieren können, dass in Griechenland 2.000 Schulen geschlossen
       werden und Kinder aufwachsen, ohne lesen zu lernen; dass in Italien
       Krankenhäuser schließen und Leute sterben. Der Spread ist der Alptraum für
       alle – außer für die Deutschen.
       
       Das hört man hier gar nicht gern, weil man sagt: Diese deutsche Mannschaft
       spielt so schön, ist so jung, so multikulti. Es scheint, als habe erst sie
       endgültig den Zweiten Weltkrieg beenden können. Und jetzt gibt es wieder
       diesen Hass auf die Deutschen. 
       
       Nein, kein Hass. Ihr ändert euch halt nicht und wollt immer noch Europa
       belehren und beherrschen. Aber die Italiener ändern sich auch nicht. Die
       Geschichte lehrt leider nichts. Es wäre jedenfalls lustig, wenn ein
       griechischer Schiedsrichter ein deutsches Spiel leiten sollte – da würdet
       ihr bestimmt Protest einlegen.
       
       Italien–Kroatien, ist das eine symbolische Partie? 
       
       Nein, eher nicht. Die Italiener und Kroaten mögen sich nicht übermäßig. Das
       ist alles.
       
       Und wer wird Europameister? 
       
       Die Deutschen sind stark, haben lang nichts gewonnen, die Armen. Sie wären
       mal wieder dran. Aber eigentlich wünsche ich mir, dass eine kleine Nation
       gewinnt – vielleicht die Griechen.
       
       14 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
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