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       # taz.de -- 100 Jahre Dada: leipS) nie-irori-ein (Spiel
       
       > Dada verkörperte 1916 die radikale Negation aller bestehenden Werte.
       > Kunst sollte in unmittelbare Lebenspraxis überführt werden.
       
   IMG Bild: So ging es los, naja, so ähnlich: Collage des Plakats zur Eröffnung des Cabaret Voltaire.
       
       1916 verbrachte der russische Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin ein
       knappes Jahr im Zürcher Exil. Zusammen mit seiner Frau Nadeshda Krupskaja
       wohnte er in der Spiegelgasse 14. Ein paar Häuser weiter in der
       Spiegelgasse 1 eröffneten Hugo Ball und Emmy Hennings am 5.Februar 1916 ihr
       heute legendäres Cabaret Voltaire. Damals war es finanziell die letzte
       Hoffnung der beiden deutschen Immigranten. Dieser Tag ging als
       Geburtsstunde von Dada in die Geschichte ein.
       
       Dada als Avantgarde-Richtung formulierte ein radikal-individualistisches
       Kunst- und Gesellschaftsverständnis, welches heute als Allgemeingut der
       aufgekärt-westlichen Bürger gelten kann. Während Lenin, der geübte
       Schachspieler und Altphilologe, in zufälliger räumlich-zeitlicher Nähe in
       Zürich eine „wissenschaflich objektive“ Begründung für die Diktatur des
       Proletariats unter Führung seiner bolschewistischen Partei
       herbeivisionierte, verstand sich Dada als radikale Absage an jegliche
       positiv formulierte Menschheitsutopie.
       
       Zürich, die friedliche Exilstadt inmitten des Ersten Weltkriegs, machte es
       möglich. In unmittelbarer Nachbarschaft artikulieren sich – und voneinander
       unbeachtet – zwei radikale Spielarten der Linken, die sich spinnefeind sein
       sollten: dogmatisches Sowjetmodell versus unorthodoxer Individualismus.
       
       Lenin verfasste in der Spiegelgasse 1 seine Schrift „Der Imperialismus als
       höchstes Stadium des Kapitalismus“. Ein paar Häuser weiter entstand eine
       Aktionskunst, die künstlerisch jede Sphäre der westlichen Populär- und
       Hochkultur bis heute durchdringt. Die Avantgarden blieben also nicht nur
       Avantgarden, auch wenn es sie als solche in den künstlerisch-aktivistischen
       Strömungen der 68er Bewegungen oder des Punk immer wieder gab. 1916
       formulierte Dada in Europa zunächst ein Unwohlsein an Monarchien,
       Weltkrieg, aber auch an rigiden Moralvorstellungen eines spießigen Lebens
       im Kapitalismus. Der Künstler als göttliches Genie oder käuflicher Narr
       unantastbarer Mächte sollte endgültig ausgedient haben.
       
       ## jhljö
       
       Dada war dabei kein rein europäisches Phänomen. In den demokratischen
       Vereinigten Staaten von Amerika karikierten klassisch ausgebildete Künstler
       wie Man Ray oder Marcel Duchamp zur selben Zeit Vergötzung und
       Herrschaftscharakter von Kunst. Duchamps 1917 in New York ausgestelltes
       Urinal landete zwar später auf dem Müll, schrieb aber, ob gewollt oder
       ungewollt, Kunstgeschichte.
       
       Dada verkörperte 1916 als Bewegung mit Lautgedichten, Objektkunst,
       Collagen, Formzertrümmerung, Ablehnung geschlossener Kunstwerke sowie
       existenzialistisch-provokativen Körpereinsatz auf den Bühnen, die radikale
       Negation des Bestehenden. Wer originell, leidenschaftlich und sympathisch
       war, durfte ohne Empfehlung eines Professors mitmachen. Vieles, was Lenin
       und seine Bolschewisten hassen sollten, versammelte sich hier:
       „Linksabweichler“ mit antiautoritärem Gesellschaftsverständnis, späterer
       Surrealismus, Situationismus und Punk inbegriffen.
       
       Im Zentrum der historischen künstlerischen Revolte stand 1916 die Negation
       aller bis dahin behaupteten Werte, einschließlich eigener Herkunft und
       Person. Man wollte die alten Künste, die auch unter expressionistischer
       Flagge in Ersten Weltkrieg und Kunstmarkt eingezogen waren, nicht einfach
       durch neu zu schaffende Werke des Dadaismus ersetzen (auch wenn dies später
       mit den Skulpturen Arps, den Collagen Schwitters und anderer geschah). Die
       radikalen Vertreter wie Hugo Ball oder Emmy Hennings in Zürich, Raoul
       Hausmann oder Franz Jung in Berlin wollten Kunst in unmittelbare
       Lebenspraxis überführen, eine neue radikale Subjektivität schaffen.
       
       Der fortwährende Aktivismus sollte Ball jedoch schnell auszehren und in der
       Schweiz in den sicheren Hafen des Katholizismus führen. Und Berlins
       Dadaisten wie Jung, Grosz oder Heartfield zog es in die revolutionären
       Auseinandersetzungen beim Zusammenbruch des Kaiserreichs. Mit Lautgedichten
       ließ sich gegen Freikorpsverbände nichts ausrichten. In der
       „Kunstlump-Debatte“ wandten sich die Berliner Dadaisten 1920 gegen Oskar
       Kokoschka. Der monierte, dass eine bei Straßenkämpfen fehlgeleitete Kugel
       das Rubens-Gemälde „Bathsheba“ im Dresdner Zwinger beschädigt hatte.
       Weltentrückt empfahl er, die Kontrahenten mögen sich doch draußen vor der
       Stadt bekriegen.
       
       ## ggeegeg
       
       Der von Dada gänzlich unbeleckte Lenin reiste 1917 als Revolutionsführer
       von Zürich nach Russland zurück. 1920 hätte er noch einmal Gelegenheit
       gehabt, mit dem freiheitlichen Lager des Sozialismus ein Bündnis
       einzugehen. Der Berliner Früh-Dadaist Franz Jung hatte 1919 ein Schiff nach
       Russland entführt. Als Abgesandter der undogmatischen Kommunisten
       Deutschlands wollte er bei Lenin um Unterstützung der Revolution in
       Deutschland werben. In seiner – im Pathos des Negationismus gehaltenen –
       Autobiografie „Der Weg nach unten“ schildert Jung den ernüchternden Verlauf
       dieser Unterredungen. Für Lenin war Jung, der frühere Mitherausgeber der
       Zeitschrift Club Dada, ein subjektivistischer Abenteurer.
       
       „Aus allem, was über das ökonomische Wesen des Imperialismus gesagt wurde,
       geht hervor, daß er charakterisiert werden muß als Übergangskapitalismus
       oder, richtiger, als sterbender Kapitalismus.“ Das war die Sprache Lenins
       in seiner 1916 in Zürich entworfenenen „Stamokap“-Theorie. Wie ein
       Mathematiker glaubte er, die Reformunfähigkeit eines dem Untergang
       geweihten kapitalistischen Weltsystems „objektiv“ darlegen zu können.
       Psychoanalyse, Vegetarismus, sexuelle Experimente oder Kunsthappenings
       standen nicht auf seinem Programm.
       
       Auch die Zürcher Dadaisten waren 1916 keineswegs harmlos oder unpolitisch.
       Die deutsche Kabarettistin und Schriftstellerin Emmy Hennings hatte
       Gefängniserfahrung (Diebstahl, Prostitution), Friedrich Glauser (mit seinen
       „Wachtmeister Studer“-Büchern Begründer des Schweizer Kriminalromans) wurde
       wegen liederlichen Lebenswandels in die Psychiatrie gesteckt. Der aus
       Pirmasens stammende Ball schrieb bei Dada-Gründung zwei für seine Haltung
       sehr aufschlussreiche Gedichte. Eines paraphrasierte den Schlager „So leben
       wir“, Ball nannte es „Totentanz“:
       
       So sterben wir, so sterben wir / Und sterben alle Tage, / Weil es so
       gemütlich sich sterben lässt. / Morgens noch in Schlaf und Traum, / Mittags
       schon dahin, / Abends schon zu unterst im Grabe drin. 
       
       Die Schlacht ist unser Freudenhaus, / Von Blut ist unsre Sonne, / Tod ist
       unser Zeichen und Losungswort. / Kind und Weib verlassen wir: / Was gehen
       sie uns an! / Wenn man sich auf uns nur verlassen kann! (...) 
       
       So morden wir, so morden wir / Und morden alle Tage / Unsere Kameraden im
       Totentanz. / Bruder, reck Dich auf vor mir! / Bruder, Deine Brust! /
       Bruder, der Du fallen und sterben musst. 
       
       Wir murren nicht, wir knurren nicht / Wir schweigen alle Tage / Bis sich
       vom Gelenke das Hüftbein dreht. / Hart ist unsre Lagerstatt, / Trocken
       unser Brot, / Blutig und besudelt der liebe Gott. 
       
       Wir danken Dir, wir danken Dir, / Herr Kaiser für die Gnade, / Dass Du uns
       zum Sterben erkoren hast. / Schlafe Du, schlaf sanft und still, / Bis Dich
       auferweckt / Unser armer Leib, den der Rasen deckt. 
       
       Unverkennbar richtete sich das Gedicht 1916 gegen Weltkrieg und Kaisertum.
       Das andere brachte er im gleichen Jahr als Lautgedicht „Gadji beri bimba“
       zur Uraufführung im Cabaret Voltaire (hier zitiert nach Richard
       Huelsenbecks „Dada“-Chronik):
       
       gadji beri bimba / glandridi laula lonni cadori / gadjama bim beri glassala
       / glandridi glassala tuffm i zimbrabim / blassa galassasa tuffm i zimbrabim
       (...)
       
       Im Cabaret Voltaire wurden 1916 auch Versuche in proletarischer Prosa oder
       Chansons wie Erich Mühsams „Revoluzzerlied“ vorgetragen:
       
       War einmal ein Revoluzzer / Im Zivilstand Lampenputzer; / Ging im
       Revoluzzerschritt / Mit deRevoluzzern mit.
       
       Und er schrie: ‚Ich revolüzze!‘ / Und die Revoluzzermütze / Schob er auf
       das linke Ohr, / Kam sich höchst gefährlich vor. (...) 
       
       Das Spiel mit der Selbstironie war autoritären Kommunisten wie Lenin fremd.
       Im Cabaret Voltaire saß nach seinem Verständnis die Konterrevolution. Im
       Sowjetreich landeten solche „Elemente“ bald im Gulag oder ertranken beim
       Schlittschuhlaufen.
       
       Heute verabscheuen die meisten Lenins und Stalins Praktiken. Und die
       historischen Dadaisten? Ihr Prinzip, neben der Kunst auch sich selbst zu
       negieren und zu ironisieren, hat „das“ System nicht abgeschafft, aber
       maßgeblich dazu beigetragen, gewisse autoritäre Momente zu mäßigen. Gerade
       in und mit den Mitteln von Kunst und Kultur. Und wer dennoch Millionen für
       ein gesenktes Pissoir ausgeben will, soll das halt tun.
       
       4 Feb 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Fanizadeh
       
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