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       # taz.de -- 13. documenta Kunstausstellung in Kassel: Toter Hirsch am Weinberg
       
       > Die 13. documenta will Mensch und Kunst Demut lehren. Sie gleicht einem
       > Ritt durch Naturwissenschaft, Philosophie und Ästhetik - und landet bei
       > der Naturreligion.
       
   IMG Bild: Zivilisation nach dem Ökozid:Adrián Villar Rojas, Return the World, 2012.
       
       KASSEL taz | „Die Natur soll wohl gebremst werden.“ Ganz hat das Paar, das
       zu Beginn der Woche in der Kasseler Karlsaue steht, den Sinn von Giuseppe
       Penones Skulptur nicht verstanden. Denn der Baumstamm, der gar kein
       Baumstamm, sondern eine Skulptur ist und einen Stein in der entlaubten
       Krone trägt, symbolisiert eher die Balance zwischen Natur und Kultur. Aber
       die Szene ist ein schönes Beispiel für das produktive Missverständnis, das
       nur die Kunst auslösen kann. Wichtiger als eine letztgültige Bedeutung ist
       der Diskurs über Kunst.
       
       Carolyn Christov-Bakargiev hätte die Szene sicher gut gefallen. Denn
       produktive Missverständnisse sind das Lebenselixier der 55-jährigen
       Italoamerikanerin, die die 13. documenta leitet, die am Samstag in Kassel
       eröffnet wird. Kaum eine documenta-Chefin hat im Vorfeld so sehr für
       Missverständnisse gesorgt, wie sie, als sie Hunde und Tomaten zu Künstlern,
       dem Menschen ebenbürtig, erklärte.
       
       Das Beste, was man über ihre documenta sagen kann, ist, dass sie diese
       Missverständnisse nicht ausgeräumt und in ein leicht konsumierbares Konzept
       gegossen hat. Die Schau bildet das wilde Denken ihrer Urheberin gleichsam
       ab. Vom antiken Arzt Sextus Empiricus bis zur Technofeministin Donna
       Haraway mixt Bakargiev gern alles verfügbare Weltwissen zu aufregenden
       Ideenskizzen.
       
       Kein Wunder also, dass die 13. Ausgabe des Kasseler Kunstolymps einem
       essayistischen Parforceritt durch Naturwissenschaft, Philosophie und
       Ästhetik gleicht, bei dem vorsätzlich Äpfel mit Birnen verglichen werden.
       Sonst hätte Bakargiev den Philosophen Christoph Menke und den
       Quantenphysiker Anton Zeilinger nicht gleichberechtigt neben Salvador Dalí
       und Lawrence Weiner platziert.
       
       ## Zustand permanenter Krisen
       
       Über einen Moment der Irritation führt diese Nivellierung aber letztlich
       nicht hinaus. Die Experimente mit Quantenpartikeln des österreichischen
       Physikers Anton Zeilinger sind zwar ebenso ein Beispiel für eine reizvolle
       Zufallsästhetik wie der wunderbare Haufen ausrangierter Schrottteile, den
       die italienische Künstlerin Lara Favaretto am alten Kasseler Hauptbahnhof
       wild aufeinandergetürmt hat; doch welchen Vorteil könnte die Kunst aus der
       Kreuzung mit der Wissenschaft ziehen? Welchen, bizarren Abfall zu Ikonen zu
       nobilitieren? Viel Interesse an der besonderen Kraft der Kunst in einem
       Welt-„Zustand permanenter Krisen“ (Bakargiev) scheinen die
       documenta-Macherinnen nicht zu haben, wenn sie ihr die bewusst gestaltete
       Form derart ausreden wollen.
       
       Dennoch entfaltet die Idee, den Menschen mit der Kunst seines
       Alleinstellungsmerkmals zu berauben, natürlich eine provozierende Kraft.
       Statt eines zentralen Leitwerks empfängt die Besucher im Foyer ein sanfter
       Luftzug des amerikanischen Künstlers Ryan Gander. Und in der Rotunde des
       Fridericianums steht ein Parfumflakon aus dem Bad von Adolf Hitlers
       Münchener Wohnung neben der Kultfigur einer 4.000 Jahre alten "Baktrischen
       Prinzessin" aus Zentralasien. Neben den Flaschen, nach deren Vorbild
       Giorgio Morandi seine Bilder malte, liegt ein Funktionsmodell von Konrad
       Zuses ersten Computern vom Ende der dreißiger Jahre.
       
       Und wenn es Guillermo Faivovich und Nicolás Goldberg tatsächlich gelungen
       wäre, den 37 Tonnen schweren Meteoriten El Chaco aus der argentinischen
       Wüste in die Karlsaue zu transportieren, hätten die documenta-Besucher die
       Frage, was eine Form ist und wer ihr Schöpfer, an einem erratischen Objekt
       studieren können, das älter ist als die Erde und der Mensch.
       
       So wenig Pop, so viel Ernst war auf einer documenta nie. Gegen digitale
       Leichtigkeit setzt Bakargiev Masse und Geschichte, beschwört die „Zeit der
       Materialien“. Doch würde die Welt besser, wenn die Kunst aufs Gestalten
       verzichtete? Was wäre gewonnen, wenn der Mensch „demütig“ (Bakargiev)
       würde, weil er das Wunder der vom Himmel gefallen Form erkennt? Von der
       guten alten Kunst- zur schönen neuen Naturreligion ist es auf Bakargievs
       documenta nur ein kleiner Schritt.
       
       ## Jede Menge progressive Politkunst
       
       Und diese Gefahr wird nicht geringer, nur weil in Kassel jede Menge
       progressiver Politkunst zu sehen ist. Zu ihren Highlights zählt die Arbeit
       des Ägypters Wael Shawky, der in seinem Film „Paths to Crusades“ die
       Geschichte der Kreuzzüge mit Marionetten nachspielt.
       
       Ausgerechnet mit der documenta den Anthropozentrismus zu Grabe zu tragen
       ist natürlich eine faszinierende Idee. Doch die narzisstische Kränkung für
       den Menschen hielt sich in Grenzen. Ob es tatsächlich „nichtmenschliche
       Produzenten“ von Kunst gibt, lässt sich auch nach Kassel nicht sagen. Ob
       die Schmetterlinge in Kristina Buchs Blumeninsel vor der documenta-Halle
       ihren Flattertanz zwischen Brennnesseln und Disteln selbst als Kunst
       empfinden, wird der Homo sapiens, der davor staunt, nie erfahren. Auch als
       Sinnbild einer verlorenen Vielfalt ist die bunte Blumeninsel ästhetisch
       etwas einfach gestrickt. Und Vielfalt ist mehr als Artenvielfalt.
       
       Kein Zweifel: Die „ökologische Frage“ ist die eigentliche Kernkompetenz von
       Bakargievs Schau. Deswegen wird sie im Gedächtnis bleiben. Und zum Glück
       setzen nicht allzu viel Künstler auf die ästhetische Schwundform einer
       selbsttätigen Organik. So wie der chinesische Künstler Song Dong mit seinem
       wild vor sich hin wuchernden "Doing Nothing Garden" aus organischem Abfall.
       
       ## Ein zeitgenössischer Gänsegeier
       
       Adrián Villar Rojas oder Claire Pentecost beweisen, dass Kunst mehr
       vermitteln kann, als die Unterwerfung unter die Ökodiktatur des
       Komposthaufens. Der tote Hirsch aus Ton des Argentiniers in den Terrassen
       des Kasseler Weinbergs erinnert an die geborstenen Relikte einer
       untergegangenen Zivilisation. Mit ihren Barren aus Erde hat die
       Amerikanerin eine Alternativwährung zum Petrodollar namens „Soil-erg“
       erfunden.
       
       Vollends heraus aus dem Reich der unbelebten Produzenten führt „Raptors
       Rapture“, der Film des puerto-ricanischen Künstlerpaars Allora und
       Calzadilla - vorgeführt in einem unterirdischen Bunker des Weinbergs. Denn
       die pfeifende Melodie, die eine Flötistin einer hauchdünnen, 35.000 Jahre
       alten, aus dem Knochen eines Gänsegeiers geschnitzten Flöte entlockt,
       klingt wie ein Hochamt auf den Menschen und die Kunst. So wie sie hier der
       Natur begegnet, kommt es noch nicht einmal zu einem Missverständnis. Ein
       zeitgenössischer Gänsegeier, das älteste Tier der Welt und vom Aussterben
       bedroht, beäugt mit schief gelegtem Kopf das Konzert und schweigt.
       
       12 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ingo Arend
       
       ## TAGS
       
   DIR Documenta
       
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