# taz.de -- 252 Jahre Erdbeben von Lissabon: Die Erfindung der Katastrophe
> Am 1. November 1755 bebte in Lissabon die Erde. Doch zur "Katastrophe"
> wurde das Ereignis erst zwei Jahre später - in einem Bild des Stechers
> Jacques Philippe Le Bas
IMG Bild: Lissabon: Im Vordergrund die Trümmer, im Hintergrund die Utopie - die Katastrophe als Chance.
taz: Herr Trempler, das Bild des Franzosen Jacques Philippe Le Bas aus dem
Jahr 1757 - zwei Jahre nach dem Erdbeben von Lissabon - zeigt die erste
Katastrophe der Geschichte?
Jörg Trempler: Ich glaube, dass die Ereignisse von Lissabon am 1. November
1755 ihre Bedeutung mit der Stichfolge von Le Bas erlangten. Es gab zwar
auch andere große Erdbeben, aber die haben nicht diesen starken Stellenwert
in der europäischen Kulturgeschichte gewonnen. Ein Grund dafür ist, dass
Lissabon als Katastrophe empfunden wurde. Dass es wiederum als Katastrophe
empfunden wurde, hat seinen Grund auch in diesen Stichen.
Wie das?
Das zeigt sich besonders stark vor dem Hintergrund anderer zeitgenössischer
Bilder. Nach einem Ereignis kursieren Flugblätter, das ist gang und gäbe.
So war das beim Ausbruch des Vesuv 1631 oder dem großen Brand von London
1666. Die Erklärungen zu diesen Flugblättern sind aufgebaut wie
Zeitungsartikel. Vorne steht ein Block mit den harten Fakten: Was ist
zerstört, wie viele Leute sind umgekommen? Dann gibt es noch die
ausführlichere Beschreibung, und am Schluss steht das Strafgericht Gottes.
Was sieht man auf diesen Flugblättern. Und wie unterscheiden sie sich von
Le Bas?
In einem Blick von schräg oben auf die Stadt ist meistens die Zerstörung
dargestellt und im Vordergrund kleine Figuren, die das Ereignis beklagen.
Worin unser Bild eine Zäsur darstellt, das ist die visionäre Architektur im
Hintergrund der Ruinen, die ich vorher auf keinem Beispiel finde. Dadurch
wird der Zukunftscharakter deutlich herausgestellt. Wenn man diese
Architektur genau betrachtet, dann ist sie neu, zeigt, dass die Stadt nicht
so wieder aufgebaut wird, wie sie einstmals stand, sondern moderner.
Dadurch ist erstmals das Buchstäbliche einer Katastrophe dargestellt, der
Wendepunkt.
Die Katastrophe von Lissabon soll die Wende zu einer neuen Stadt sein? War
die Katastrophe nicht das Erdbeben?
Das ist genau der Punkt, an dem man umdenken muss. Der allgemeine
Sprachgebrauch von "Katastrophe" ist heute: Erstens, es ist ein Ereignis,
und zweitens, es ist etwas Negatives. So ist es in der Geschichte nicht. Es
gab zwar immer schon Ereignisse, die wir heute als Katastrophen bezeichnen
würden, sie wurden aber erst ab dem 18. Jahrhundert und ungefähr ab der
Zeit, in der unsere Stichfolge entstanden ist, als Katastrophen bezeichnet.
Diese frühe Benennung des 18. Jahrhunderts ist eine ganz andere als die
heutige, weil sie sich stark an die Theatersprache anlehnt, wo das Wort
herkommt und von der Antike bis ins 18. Jahrhundert eine Art
Dornröschenschlaf gehalten hat.
Was bedeutet die Katastrophe in der Theatersprache?
Zunächst "Wendepunkt", ganz buchstäblich in der wörtlichen Übersetzung (von
gr. kata-stréphein). Die Handlung muss kippen. Dieser Wendepunkt kann
sowohl zum Guten als auch zum Schlechten führen. Der grundsätzlich negative
Aspekt, den wir jetzt in der Alltagssprache haben, fällt weg. Man sagt
"Katastrophe" für historische Ereignisse, um den Wendepunkt, das Vorher und
Nachher in aller Deutlichkeit zu trennen - um eine fortschreitende, eine
teleologische Geschichte zu schreiben.
Le Bas hat also einem schlimmen Ereignis einen dramaturgischen Dreh
gegeben?
Genau. Man kann sagen, am 1. November 1755 war das Ereignis, aber erst zwei
Jahre später ist das Ereignis als Katastrophe interpretiert worden. Da ist
aus dem Erdbeben von Lissabon die Katastrophe von Lissabon geworden. Ich
will nicht so weit gehen, dass dies nur an dieser Stichfolge liegt, aber
ein Teil dieser Mutation vom Erdbeben zur Katastrophe wurde durch die
Bilder von Le Bas erzeugt.
Hat diese Darstellungsweise Schule gemacht?
Nicht unmittelbar, obwohl mir das als Bildforscher anders lieber wäre. Es
gibt da zum Beispiel einen Maler, Johann Georg Trautmann (1713-1769), der
pittoreske Stadtbrände gemalt hat. Dreißig brennende Städte mindestens -
vor und nach 1755. Da ist keine Zäsur zu sehen. Die alte Herangehensweise
ist eine sehr starke, sehr tradierte, die nicht durch die Stichfolge von Le
Bas ein für alle Mal aufgehoben wurde. Die Übergänge sind da eher fließend.
Gut dreißig Jahre später aber, mit der Französischen Revolution, ist die
Umwälzungs-Thematik im Sinne der Katastrophe dann gang und gäbe.
Revolution als Katastrophe?
Ja, schon rein sprachlich. "Katastrophe" im Wortsinn und "Revolution" (lat.
re-volvere, zurückdrehen) sind verwandt in dem Drehmoment, das sie
bezeichnen. Die Französische Revolution wird in den Berichten eigentlich
sofort mit Naturkatastrophen verglichen und als universelles Erdbeben
dargestellt.
Gibt es da Abbildungen, die dieser Sichtweise entsprechen?
Der Schweizer Historienmaler Jean-Pierre Saint-Ours (1752-1809) etwa hat in
einer Folge anderer Historienbilder ein Erdbeben dargestellt. Aber das
Erdbeben ist kein bestimmtes, sondern hat eine allgemeine historische
Staffage mit griechischen Tempeln im Hintergrund. Im Vordergrund geht eine
Familie von links nach rechts aus dem Bild heraus. Sie verlässt den Ort des
Erdbebens und blickt gleichzeitig nach hinten. Vom Typus her kann man das
zurückverfolgen bis zu Darstellungen von der Vertreibung aus dem Paradies:
nach vorne schreiten, nach hinten blicken. Und sie sind in Blau, Weiß und
Rot gekleidet, den Farben der französischen Trikolore. Damit ist die
Parallele gegeben zwischen dem Erdbeben, der Vertreibung aus dem Paradies
und der Französischen Revolution. Der Unterschied zwischen der
Französischen Revolution und einem Erdbeben ist doch, dass es verschiedene
Verursacher hat: Einmal sind es Menschen, und einmal ist es die Natur.
Spielt der Unterschied eine Rolle?
Historisch gesehen ist "Naturkatastrophe" ein jüngeres Wort. Im 18.
Jahrhundert wurden diese ganzen Natur-Komposita geprägt: Natursehnsucht,
Naturempfinden, Naturschauspiel, und darüber dann auch Naturkatastrophe.
Die Frage, ob man bei von Menschen gemachten Ereignissen überhaupt von
Katastrophen sprechen kann, war zu der Zeit, als der Begriff von der
Theatersprache auf die Allgemeinsprache ging, überhaupt kein Thema. Da
waren beides Katastrophen.
Was ist denn dann das Merkmal einer Katastrophe?
Man kann sie nicht messen. Rückversicherer tun das, wenn sie sagen: soundso
viel Tote, soundso hoher Schaden. Aber das ist eine reine Setzung. Eine
materielle Definition der Katastrophe wird wahrscheinlich nie gelingen.
Deshalb sage ich auch, Katastrophe ist kein Ereignis, sondern dessen
Interpretation. Sie ist ein Punkt auf dem Zeitstrahl. Ohne zeitliche
Entwicklung ist keine Katastrophe möglich. Das ist das Besondere. Und das
schält sich erst ab dem 18. Jahrhundert in der allgemeinen Kulturgeschichte
Europas heraus. Das Nächste ist: Wie stelle ich das dar? Da bieten sich die
Bilder an, weil sie so tun, als würden sie das Ereignis genau darstellen.
Tatsächlich interpretieren sie es aber. So ist das auch bei unserem Stich:
Der tut so, als würde er die Zustände in Lissabon illustrieren, in Wahrheit
aber weist er über sie hinaus.
Gibt es Parallelen zwischen heutigen Katastrophen-Bildern und dem von Le
Bas?
Heute ist alles durch die Livebilder des Fernsehens direkt und unmittelbar,
das ist ein großer Unterschied. Dennoch gibt es eine Parallele. Dass auch
diese Bilder keine Illustration sind, zeigt sich zum Beispiel in der
bislang prominentesten Katastrophe des 21. Jahrhunderts, in den
Fernsehbildern vom 11. September 2001. Das Ereignis - zwei Flugzeuge
treffen die Türme des World Trade Centers und die Türme stürzen ein - kann
ohne Bilder passieren. Aber dadurch, dass genau diese Bilder im Fernsehen
übertragen wurden, ist das Ereignis ein anderes geworden. Man kann zwar
Ereignis und Darstellung nicht mehr trennen; man muss aber in aller
Deutlichkeit sagen, dass die Fernsehbilder kein bloßer Spiegel sind und wir
nur wie durch ein Fernglas zugucken.
Soll das heißen, das Ereignis des 11. Septembers wäre vielleicht ein
anderes, gäbe es andere Bilder davon?
Es ist ja ganz typisch, dass die Bilder immer wieder mit Spielfilmen
verglichen werden. Das sagt erst mal eins: Wir haben ein Bild von
Katastrophenfilmen im Kopf, wir wissen, wie so etwas aussehen muss,
vermittelt durch das Kino. Jede Zeit hat ihre Sehgewohnheiten und einen
bestimmten Stil, in den sich Bilder fügen müssen, um erfolgreich zu sein.
Wenn Le Bas sein Bild für London 1666 gemacht hätte, also knapp 100 Jahre
früher, hätte es möglicherweise nicht den Erfolg gehabt. 200 Jahre früher
hätte es ganz bestimmt nicht den Erfolg gehabt. Da frage ich: Gilt das
nicht auch für den 11. September? Vielleicht werden wir in 200 Jahren
sagen, dass diese Katastrophe, auch wegen der Bilder, nur Anfang des 21.
Jahrhunderts so bedeutungsvoll sein konnte.
INTERVIEW: SVEN BEHRISCH
31 Oct 2007
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