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       # taz.de -- 40 Jahre Republik Freies Wendland: 33 Tage Widerstand
       
       > Vor 40 Jahren besetzten Hunderte Umweltschützer ein Bohrloch im
       > Gorlebener Wald und riefen die Republik Freies Wendland aus. Ein
       > Augenzeugenbericht.
       
   IMG Bild: Reimar Paul (der Autor des Textes) und Heike haben Spaß in der Freien Republik Wendland
       
       Es war gelebte Utopie: Die Republik Freies Wendland. Und es war
       fantasievoller, kollektiver Widerstand. Bauern und Bäuerinnen machten mit,
       Leute von der Uni, aus Schulen, aus Fabriken. Es war politische Aktion und
       gleichzeitig politisches Theater, das 33 Tage dauerte und das zeigte, was
       möglich ist, wenn gemeinsam gehandelt wird, um etwas zu verhindern, was
       Wirtschaft, Banken und Politiker vorantreiben.
       
       In meinem Büro stapeln sich noch heute Fotos, Broschüren, vergilbte
       Flugblätter und die Tonkassetten von Radio Freies Wendland. Dazu noch der
       Wendenpass, das Fantasiedokument, unser Fantasiedokument. Einen halben
       Meter Material zu etwas, das 40 Jahre zurückliegt. Ich kann es nicht
       wegwerfen.
       
       Der Atom Express, eine von dem Göttinger Arbeitskreis gegen Atomenergie
       herausgegebene Zeitung, schreibt im Frühjahr 1980: „Am Wochenende des 3.
       Mai zogen Hunderte junger Menschen aus dem Landkreis, Landwirte,
       Handwerker, Schüler, Studenten, verstärkt durch auswärtige Freunde zur
       Bohrstelle 1004. Die Menge wuchs und wuchs, bis es Tausende waren, und sie
       griffen zu Säge, Hammer, Beil und Nägeln und errichteten auf dem
       vernichteten Kulturboden die Republik Freies Wendland.“
       
       Die Bohrstelle 1004 war eine von vier Bohrungen, mit denen der Salzstock
       Gorleben auf seine Tauglichkeit als Atommüllendlager geprüft werden sollte.
       Niedersachsens CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht hatte das Dorf im Kreis
       Lüchow-Dannenberg als Standort für ein Nukleares Entsorgungszentrum
       benannt: Auf einer Fläche von vier Quadratkilometern sollten eine atomare
       Wiederaufarbeitungsanlage, ein Endlager und weitere Nuklearfabriken
       entstehen.
       
       Im strukturschwachen Wendland würden die Leute schon nichts gegen diese
       Fabriken haben, so Albrechts Kalkül. Ein Irrtum: Die meisten
       Lüchow-Dannenberger sind dagegen. [1][Einheimische und Zugezogene
       organisieren den Protest]. Ende März 1979 ziehen Hunderte Landwirte mit
       Traktoren von Gorleben nach Hannover, sie werden von mehr als 100.000
       Demonstranten empfangen. Im Frühjahr 1980 beschließen AKW-Gegnerinnen und
       -Gegner, eine Bohrstelle zu besetzen. Die Bohrstelle 1004. Ich bin einer
       von ihnen.
       
       ## Hütten aus Bäumen, Stroh und Glas
       
       Auf sandigem Boden errichten wir Häuser und Hütten, aus Baumstämmen, aus
       Stroh und sogar aus Glas. Auch ein großes Rundhaus für Versammlungen, eine
       Batterie von Latrinen und ein Passhäuschen mit Schlagbaum, wo die
       Wendenpässe ausgestellt werden und über dem die grün-gelbe Wendlandfahne
       flattert.
       
       Der Häuserbau macht hungrig; oft haben wir abends keine Ahnung, was es am
       Morgen zu essen geben wird. In den Anfangstagen bringen Bauern Kartoffeln
       und Gemüse, Bäcker das Brot vom Vortag. Frauen aus den Wendlanddörfern
       backen Kuchen für uns.
       
       Ein Landwirt schafft Wasser in einem Tank ins Hüttendorf. Später wird ein
       Brunnen gebohrt. In der Republik Freies Wendland gibt es sogar
       Sonnenduschen und ein Schwitzbad, das Wasser in den Tanks wird durch
       einfache Solarzellen erwärmt.
       
       Eins der Häuser wird nach [2][Fritz Teufel] benannt. Der war Kommunarde und
       Mitglied der Bewegung 2. Juni; er saß 1980 schon fünf Jahre in
       Untersuchungshaft, weil er an der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden
       Peter Lorenz beteiligt gewesen sein soll, was nicht stimmte.
       
       Die Fritz-Teufel-Hütte muss dafür herhalten, dass der Lüneburger
       Regierungspräsident behauptet, die Republik Freies Wendland sei ein
       Refugium für Terroristen. Auch die beiden Türme im Dorf werden für negative
       Stimmungsmache missbraucht. „Dort oben haben sie Wachs für die Bullen“,
       zitiert die Bild-Zeitung einen fiktiven Dorfbewohner.
       
       ## 1.000 Pässe in vier Tagen
       
       Fast 700 Menschen leben ständig in der Republik Freies Wendland. Die
       zahllosen Wochenendgäste nicht eingerechnet. Sie solidarisieren sich mit
       unserer Protestaktion, bringen Lebensmittel und Werkzeug vorbei. Schon nach
       vier Tagen sind die ersten 1.000 Wendenpässe verkauft. Die Einnahmen gehen
       in die Dorfkasse. Der Pass ist „gültig, solange sein Inhaber noch lachen
       kann“.
       
       Zivilpolizisten nisten sich in einem VW-Bus ein, sie werden enttarnt und
       nach Hause geschickt. Dann beunruhigt uns eine Serie von Brandanschlägen.
       In einer Nacht legen Unbekannte in einem Zelt Feuer. Da wir weitere
       Anschläge befürchten und zudem akute Waldbrandgefahr besteht, werden Brand-
       und Nachtwachen eingerichtet. Je zehn Leute patrouillieren in
       Vierstundenschichten von 21 bis 9 Uhr durch das Dorf und den Wald. Ist das
       schon eine Militarisierung?
       
       Kein Tag vergeht ohne Kulturprogramm. Kostenlos spielen Rockbands,
       Folkgruppen, Theaterkollektive. Wolf Biermann und Walter Moßmann treten
       auf, ein Jugend-Sinfonie-Orchester und die Theaterwehr Brandheide aus dem
       Wendland ebenso. Am neunten Tag der Besetzung errichten Göttinger
       Theologiestudenten eine Holzkirche. Zum ersten Gottesdienst kommen 100
       Leute.
       
       Am 18. Mai strahlt Radio Freies Wendland die erste Sendung aus, Hunderte
       Dorfbewohner und -bewohnerinnen versammeln sich am Lautsprecherwagen. Es
       gibt in der Folge mehrere Sendungen, auch die spätere Räumung wird live
       übertragen. Viele Polizisten hören mit. Ein Beamter protokolliert: „Radio
       Freies Wendland tönt unentwegt aus dem kleinen Transistorradio, das ein
       Kollege mitführt. So erfahren wir auch das, was wir nicht sehen können. RFW
       berichtet in erstaunlicher Sachlichkeit.“
       
       ## Kontroversen am Abend
       
       Während sich viele im Dorf auf die Gestaltung eines alternativen Lebens
       konzentrieren, gibt es beim abendlichen Sprecherrat heftige Kontroversen.
       Der Streit dreht sich um die Perspektiven der Besetzung, um den Widerstand
       bei der Räumung. Soll die Republik Freies Wendland, wenn die Polizei kommt,
       verteidigt werden? Wenigstens symbolisch, durch Jauchebeschuss, durch
       Barrikaden? Ich war dafür.
       
       Als noch nicht ausdiskutiert ist, ob Barrikaden gewaltfreie
       Widerstandsmittel sind, fangen einige Leute schon an, sie zu bauen. Sie
       heben auf den Zufahrtswegen Gruben aus und schichten Äste und Holz zu
       großen Haufen zusammen. Nach einer Intervention des Bürgermeisters der
       Nachbargemeinde Trebel, der mit der Besetzung sympathisiert, aber nicht
       damit einverstanden ist, dass Gemeindewege versperrt werden, werden die
       Hindernisse wieder abgebaut.
       
       Das Verhältnis der Dorfbewohner untereinander, so haben es viele und auch
       ich erlebt, ist trotz immer wieder aufbrechender Spannungen und Konflikte
       von Vertrauen und Emotionalität gekennzeichnet. „Ich hab mich über jeden
       gefreut, der neu angekommen ist. Das waren alles Leute, die was Ähnliches
       wollten wie du selbst, ich hätte jedem um den Hals fallen können“, sagt mir
       eine heute 66-Jährige. Und die kürzlich verstorbene [3][Lüchow-Dannenberger
       Anti-Atom-Veteranin Lilo Wollny] schilderte die Atmosphäre noch kurz vor
       ihrem Tod so: „Auf dem Platz, als ich die Leute gesehen hab, hatte ich
       andauernd das Gefühl, ich muss die irgendwie in den Arm nehmen, und ich hab
       das auch gemacht.“
       
       In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni schläft niemand, denn das Dorf soll am
       nächsten Tag geräumt werden. Unsere Stimmung schwankt zwischen Wut, Mut und
       Angst. „Das Dorf könnt ihr zerstören, aber nicht die Kraft, die es schuf“,
       schreiben einige auf ein Transparent und spannen es zwischen den Türmen
       auf.
       
       ## Hubschrauber im Tiefflug
       
       Bei der Räumung am Morgen stehen und sitzen den rund 10.000 anrückenden
       Polizisten und Grenzschützern – viele vermummt und mit geschwärzten
       Gesichtern – etwa 4.000 Atomkraftgegner und Atomkraftgegnerinnen gegenüber.
       Die Staatsmacht zieht ein Bürgerkriegsmanöver auf, mit ständig startenden,
       landenden und im Tiefflug über die Hütten donnernden Hubschraubern.
       Polizisten zerren demonstrierende Männer und Frauen aus der Menge und laden
       sie auf der anderen Seite der Absperrungen wieder ab.
       
       Riesige Bulldozer walzen die Hütten platt. In die Wut über die Räumung
       mischen sich Tränen. Günter Zint, der die kurze Geschichte der Republik
       Freies Wendland in einem Bildband dokumentiert hat, beobachtet aus dem
       Fenster einer Hütte den Aufmarsch der Polizei. Sekunden nachdem er das
       Gebäude verlässt, rammt ein Raupenfahrzeug den Bau. Die Hütte fällt in sich
       zusammen. „Reine Glückssache, dass ich das überlebt habe“, sagt er.
       
       „Das Antiatomdorf war nicht allein gegen die tödliche Atomenergie
       gerichtet, sondern Symbol neuer Lebensweise überhaupt“, schreibt am
       folgenden Tag der Gewerkschafter und Atomkraftgegner Heinz Brandt. Die Zeit
       widmet der Republik Freies Wendland einen langen Artikel: „Was da in
       Klein-Utopia einstürzte, war die Architektur einer Welt ohne Hiroshima“,
       steht darin.
       
       Das Hüttendorf wurde zerstört. Die Republik Freies Wendland aber lebte
       fort. Die Wochen im Hüttendorf, der Widerstand davor und danach, haben eine
       politische Sozialisation und Kultur geschaffen, von der sich manches bis
       heute erhalten hat. Die Republik Freies Wendland war nicht die erste und
       schon gar nicht die letzte Widerstandsaktion im Wendland. Aber sie gab dem
       Widerstand eine eigene Identität, die bis heute wirkt.
       
       3 May 2020
       
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