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       # taz.de -- 57. Jazzfestival in Montreux: Liebe und Fortschritt am Genfer See
       
       > Hier werden kulturelle Gefräßigkeit und musikalische Aneignung gefeiert:
       > Eindrücke vom 57. Jazzfestival im schweizerischen Montreux.
       
   IMG Bild: Generation Sex-Sänger Billy Idol und Bassist Tony James in Montreux
       
       Jon Batiste sagt: „I play from the heart and let the spirit take over.“ Als
       der Jazzpianist und mehrfache Grammy-Gewinner diese Aussage macht, ist sein
       Workshop im Club The Memphis in Montreux am Donnerstagabend in vollem
       Gange. Zur Einstimmung hat der 32-jährige US-Künstler mit seiner
       fünfköpfigen Band einige Songs gespielt; traditionalistisches Material,
       leichtfüßig und zugleich schwerblütig klingend. Musik, die die Luft zum
       Flimmern bringt und durch übernatürliche Connections zu den Vorfahren jenen
       Spirit annimmt.
       
       Besonders bemerkenswert ist, dass eine britische Musikerin statt eines
       Basses mit der Tuba die tiefen Frequenzen auslotet. Das Instrument gehört
       zum Standard der sogenannten Second-Line-Blaskapellen, die durch New
       Orleans marschieren, um beim Karnevalsumzug oder aus Anlass von
       (Jazz-)Begräbnissen zu spielen. Auf der Basis der Tuba improvisiert
       Batistes Band drauflos.
       
       ## Montreux betreibt seit jeher Traditionspflege
       
       Batiste stammt aus einer Musikerfamilie in New Orleans und steht, auch das
       sagt er beim Workshop, in der Tradition seiner Heimatstadt. Die dortige
       Musikszene ist eine feste Größe in Montreux. Festivalgründer Claude Nobs
       (1936–2013) ist deswegen zum Ehrenbürger der Jazzmetropole ernannt worden.
       Von 1967 an lud Nobs oft Musiker:Innen nach Montreux ein, die in der
       US-Heimat bereits in Vergessenheit geraten waren, gerade weil sie einen
       Bezug zur Geschichte pflegten. Montreux betreibt seit jeher die
       Traditionspflege, die in den USA zu kurz kommt.
       
       Dabei geht es in der Musik von Jon Batiste immer vorwärts, der Groove ist
       ihr Epizentrum. Batiste spielt Piano und Melodica, mittendrin wechselt er
       zum Schlagzeug, um beim Standard „St. James Infirmary“ eigene Akzente auf
       Becken und Trommeln zu setzen. Er belebt einige Songs des Albums „Social
       Music“ wieder, das er 2013 veröffentlicht hatte. Zeit sei für ihn ein
       relativer Begriff, wie ein Gummiband schnelle diese vor und zurück. „Love
       and Progression“ antwortet er auf die Frage aus dem Publikum, was ihm
       eigentlich an der Musik am wichtigsten ist.
       
       ## Billy Idol und die Ex-Pistols
       
       Weder Liebe noch Fortschritt sind Eigenschaften der britischen Rockband
       Generation Sex, die am Donnerstagabend im Auditorium Stravinski gastiert.
       Ihr Bandname setzt sich aus den früheren Stationen der vier Musiker
       zusammen: Billy Idol und Tony James haben 1976 in London Generation X
       gegründet, Paul Cook und Steve Jones die Sex Pistols. Vier Legenden, die
       auf die alten Tage noch mal auf Tour gehen, weil das Geld knapp geworden
       ist? Die größere Frage war allerdings, ob die Mundwinkel von Billy Idol
       wieder eingerenkt sind, die ihm Mitte der 1980er im Videoclip seines Songs
       „Flesh for Fantasy“ verlustig gegangen waren.
       
       Es fängt schon over the top an. Die vier, allen voran der jaulende Billy
       Idol, setzen zum Deep-Purple-Signatursong „Smoke on the Water“ an, und
       brechen ihn nach 30 Sekunden wieder ab. Deep Purple hatten das Lied 1971 in
       Montreux komponiert, unter dem Eindruck eines Feuers im Casino, das während
       eines Konzerts von Frank Zappa ausgebrochen war. Die Rauchsäule hüllte das
       Seeufer ein.
       
       ## Im Konzertsaal ist Alkohol tabu
       
       Am Donnerstag hätte ein Feuer zweifelsohne gutgetan, Generation Sex
       spielten bockbeinig Coverversionen ihrer eigenen Songs, von „Pretty Vacant“
       über „No Future,“ bis hin zu „King Rocker“ und „Kiss Me Deadly“. Wer
       gedacht hatte, es könnte ein trashige Zombie-Revue werden, sah sich
       getäuscht. Im Konzertsaal von Montreux war jeglicher Alkohol tabu. Punk,
       jetzt also auch für Temperenzler genießbar, dazu passend Billy Idol, der
       seinen mit Ketten behangene Lederjacke partout nicht ausziehen wollte, aber
       über die Hitze im Saal klagte. Idol fehlt die Kreissägenstimme [1][von
       Oberpistole Johnny Rotten]. Würdig wirkt einzig Drummer Paul Cook, der über
       die Toms rumpelt wie ein Bollerwagen über Kopfsteinpflaster.
       
       Dabei braucht es nicht viel, um wenigstens eine Ahnung von Renitenz
       herbeizuführen. Das beweist Iggy Pop bei seinem gelenkigen Konzert wenig
       später, als er seine Weste während des ersten Songs auszieht und von sich
       schleudert. Wenn bei Generation Sex alles schwerfällig erschien, punktet
       Iggy Pop schon bei den Ansagen: „Poor People are in the front, rich people
       stay in the back“, billiger Populismus zwar, aber doch zutreffend, denn
       vorne wird wild gepogt.
       
       Kein Wunder, [2][der 76-jährige Iggy] und seine in bestechender Form
       aufspielende Band hauen nonchalant Welthits raus: „TV Eye“, „Search
       &Destroy“, „Gimme Danger“, „Raw Power“. Mit nacktem Oberkörper, der sich
       gefährlich schief zur Seite neigt, die Haut faltig, mehr Komodowaran als
       Leguan, wälzt sich Iggy am Boden wie ein erlebnisorientierter Jugendlicher.
       Bei „The Passenger“ ist die Klassentrennung aufgehoben, der ganze Saal
       singt mit und plötzlich kommt Ausflugsstimmung am Genfer See auf.
       
       ## Kitsch, Kunst und höchste Auszeichnungen
       
       Anfang der 1980er ließ Claude Nobs in Haut-de-Caux, oberhalb von Montreux,
       zwei Chalets errichten, in die er Musiker:Innen einlud, um in Ruhe zu
       komponieren. In der Sommerfrische entstanden ist etwa „Let’s Dance“, ein
       Song, den David Bowie zusammen mit Nile Rogers geschrieben hat.
       
       Heute sind die beiden Gebäude Heimstatt für Künstlerresidenzen, aber auch
       ein Museum, in dem Nobs’ gigantische Plattensammlung in Aktenregalen
       untergebracht ist und vieles andere, was der manische Sammler anhäufte.
       Hier liegt alles nebeneinander: Schweizer Eleganz, Kitsch, große Kunstwerke
       und höchste Auszeichnungen: [3][Seit 2013 darf das audiovisuelle Archiv des
       Festivals das Prädikat Unesco-Weltkulturerbe führen]. Nobs’
       Kommunikationskunst ist längst Montreux-Folklore.
       
       ## Gilberto Gil ist ganz Kosmopolit
       
       Bevor am Freitag der brasilianische Popstar Gilberto Gil die Bühne betritt,
       werden Ansagen von Nobs für die 14 zurückliegenden Gil-Konzerte in Montreux
       auf den Videoscreens eingespielt: Der Impresario sah sein Festival als
       nachhaltige Förderung von Karrieren an. Gilberto Gil kommt diesmal mit
       13-köpfiger Band, in der auch seine Kinder mitwirken. Die Musik steht
       [4][im Zeichen von Gils Songwriter-Brillanz], auch Funk- und Disco-Elemente
       sind zum Patchwork verwoben.
       
       Vom Auftakt „Palco“ (1981) an ist die brasilianische Vielfalt wie an einer
       Perlenkette aufgereiht, ohne dass es beliebig wirkt. So wird [5][„Barato
       Total“, ein Song der 2022 verstorbenen Künstlerfreundin Gal Costa,]
       gecovert. Bläsersektion, drei Chorsängerinnen, drei Gitarristen und mehrere
       Perkussionisten stehen für den Reichtum der brasilianischen Musikkultur,
       aber auch für ihre Gefräßigkeit, sich Stile aus aller Welt anzueignen. Gil
       ist ganz Kosmopolit, souverän und spitzbübisch spricht er die Ansagen
       akzentfrei Französisch. Der Star, der 2022 seinen 80. Geburtstag feierte,
       klingt stimmlich frisch. Ein großer, ein fröhlich machender Abend.
       
       ## Eher lautmalerisch tupfend
       
       „Falls ihr euch wundert, dass mein Haar nass ist, ich habe vor wenigen
       Minuten noch im See gebadet und dabei einen Ohrring verloren. Falls ihr ihn
       findet …“ Mit Weinglas betritt Katie Gregson-MacLeod am Samstag die
       kleinere Bühne des Jazz Lab: Die 22-jährige Schottin ist mit ihrem Song
       „Complex“ über Nacht auf Tiktok berühmt geworden. Vom 4. auf den 5. August
       2022 generierte er 100.000 Plays, inzwischen sind es mehr als 7,2
       Millionen.
       
       Eine Eintagsfliege ist sie aber nicht, eher erinnert die junge Frau an
       große schottische Singer-Songwriter Marke Roddy Frame, die die Highlands in
       ihren schwärmerischen Songs näher an die US-Südstaaten gerückt haben. Mit
       Gitarre und am Piano schafft es auch Gregson-MacLeod spielend, eher
       lautmalerisch tupfend als gefühlig winselnd, Liebesleid und Blues zu
       verorten. In den Songs geht es um Liebes- und Sexabenteuer, selbstironisch,
       mit Hang zu Stand-up-Comedian-Punchlines.
       
       ## Das offene Piano
       
       Nicht nur den Stars und Talenten wird ein Forum gegeben. Nachmittags heißt
       es ab 15 Uhr an der Uferpromenade „Open Piano for Refugees“. Auf
       Vermittlung der österreichischen NGO „DoReMi“ ist an den Festivaltagen ein
       Klavier vor der Kurmuschel aufgestellt: Wer will, kann darauf spielen.
       Flüchtlinge waren bei der Stippvisite am Samstag nicht anwesend, es spielen
       ein Kind und die Afrofranzösin Marie, die als Touristin am Genfer See weilt
       und den Walzer „Nr. 10“ von Chopin schwungvoll in die Tasten haut.
       
       Zuschauer sitzen in Liegestühlen, klatschen Beifall und spenden Geld.
       Sozialarbeiter Erik Lowes erklärt, das Konzept sei bewusst offen: Kultur
       könne man nicht nur mit Geld aufwiegen, es soll allen Menschen Mut gemacht
       werden, öffentlich aufzutreten.
       
       ## Die Poetik der Beziehung
       
       Der Workshop „Afrosonica – Soundscapes“ steht unter einem Zitat des
       karibischen Dichters Édouard Glissant aus seinem Essay „Poetik der
       Beziehung“, in dem es um die Interkonnektivität von sozialen Beziehungen
       geht, die Glissant zufolge wichtiger sind als die ethnische Abstammung von
       Menschen. In einer Art Lecture-Performance führen die Genfer Ethnologin
       Madeleine Leclair und der südafrikanische Produzent und DJ Mo Laudi
       [6][afrikanische Schallplatten] aus der Sammlung des ethnografischen
       Museums Genf vor und sprechen auf „Franglais“ über ihre Zusammenhänge. 2025
       soll daraus eine Ausstellung werden.
       
       In Montreux beginnt die musikalische Reise mit Songs der Befreiungsbewegung
       MPLA aus Angola, findet über Gesänge von Pygmäen aus dem
       zentralafrikanischen Urwald einen mysteriösen Höhepunkt und wird dann von
       Mo Laudi mit einer eigenen Produktion kongenial zurück zum Ausgangspunkt
       des Jazz transportiert. „Congo Square in D minor“ ist ein Amapiano-Track,
       der vom zentralen Platz in New Orleans inspiriert ist, an dem sich im 19.
       Jahrhundert Sklaven treffen und gemeinsam musizieren konnten.
       
       Transparenzhinweis: Die Recherche wurde von MJF unterstützt.
       
       11 Jul 2023
       
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