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       # taz.de -- 70 Jahre Wannsee-Konferenz: "Es war ein kompletter Mordplan"
       
       > Norbert Kampe, Leiter des Hauses der Wannseekonferenz, sagt: Der
       > Holocaust wurde hier 1942 nicht beschlossen - aber das Treffen war eine
       > wichtige Etappe auf dem Weg dorthin.
       
   IMG Bild: Das Haus der Wannsee-Konferenz heute.
       
       taz: Herr Kampe, wie viele Menschen kommen zu Ihnen mit der irrigen
       Meinung, auf der Wannsee-Konferenz sei die "Endlösung" beschlossen worden? 
       
       Norbert Kampe: Das sitzt tatsächlich sehr fest in den Köpfen - zumindest
       bei durchschnittlich gebildeten Menschen. Ich habe erlebt, dass selbst
       Journalisten, denen ich alles genau erzählt habe, hinterher geschrieben
       haben, am 20. Januar 1942 wurde die Vernichtung der europäischen Juden
       beschlossen.
       
       Woher rührt dieses Missverständnis? 
       
       Es ist offenbar schwer zu verstehen, dass das eine Organisationskonferenz,
       keine Entscheidungskonferenz war. Wir haben deshalb im historischen
       Konferenzraum eine Tafel aufgehängt, die die Teilnehmer hinsichtlich
       Hierarchie und entsendenden Ämtern zuordnet. Die Ebene von den Ministern
       bis hinauf zum "Führer" war nicht anwesend. Hitler war nicht da, Göring
       auch nicht. Von daher ist völlig klar, dass das Treffen dieser
       Staatssekretäre eine Organisationskonferenz war, die die Zusammenarbeit der
       Ämter besprach. Auch der einladende Reinhard Heydrich war nicht der oberste
       Chef, das war der Reichsführer SS Heinrich Himmler.
       
       Was genau sollten nun die beteiligten Ämter am 20. Januar 1942
       koordinieren? 
       
       Da sind wir mitten in der Diskussion. Dinge, die vorher schon vollkommen
       feststehen? Oder die noch im Fluss sind? Auf jeden Fall muss man die
       Konferenz im Kontext der SS sehen, die die Kontrolle bekommen wollte über
       das, was sie "Endlösung" nannte. Ursprünglich kamen die antijüdischen
       Maßnahmen ja aus dem Innenministerium: die Definition, wer Jude ist, die
       Nürnberger Gesetze und so fort. Aber mit Kriegsbeginn war ein ziviles
       Ministerium nicht mehr radikal genug. So stand Innenministeriumsvertreter
       Wilhelm Stuckart gegen Heydrich von vornherein auf verlorenem Posten.
       Stuckart konnte nur noch versuchen, Details durchzusetzen. Heydrich ließ
       seine Vorschläge auf fünf der fünfzehn Seiten Konferenzprotokoll, das Adolf
       Eichmann schrieb, zusammenfassen. Es war zwar nur ein Ergebnisprotokoll,
       aber es war so manipuliert, wie es Heydrich haben wollte.
       
       Also diente die Konferenz dazu, Heydrich als zentralen Mann der
       Organisation der "Endlösung" zu installieren? 
       
       Ja, er zelebrierte, dass er von ganz oben den Auftrag hatte, die
       Deportationen zu organisieren. Er war ja vorher schon zuständig für die
       Einsatzgruppen, die gleich mit dem Angriff auf die Sowjetunion die
       Mordaktionen starteten. Den Massenmord durch Erschießungskommandos hatte er
       auch schon organisiert, und er war begierig darauf, der einzige Zuständige
       zu sein. Aber er wollte sich auf einen "Führerbefehl" berufen.
       
       Sie meinen das Schreiben von Göring vom Juli 1941, das ihn beauftragte, die
       Durchführung der "Endlösung" zu organisieren? 
       
       Nicht nur. Laut Protokoll der Konferenz sagte Heydrich: "Nach vorheriger
       Genehmigung durch den Führer" habe man jetzt andere Möglichkeiten, nämlich
       die Deportation nach dem Osten. Allerdings muss man in der Diskussion über
       die Bedeutung der Wannsee-Konferenz im Prozess der Vernichtung eines
       bedenken: Es gab damals, im Januar 1942, noch nicht die detaillierte
       Planung von großen Vernichtungslagern.
       
       Nein? 
       
       Nein. Heydrich hat in anderen Texten und Reden deutlich gesagt, die Juden
       Westeuropas sollten nach dem Sieg über die Sowjetunion nach Sibirien
       deportiert werden und dort durch Zwangsarbeit, Unterernährung und Kälte
       umkommen. Es heißt ja auch im Konferenzprotokoll: Wer das überlebt, soll
       besonders "behandelt" werden. Also war es schon ein kompletter Mordplan,
       nur ohne Vernichtungslager. Mit der Wannseekonferenz wurde der bereits
       stattfindende Massenmord in Osteuropa zum systematischen Völkermord an
       allen Juden in Europa - von der Planung her. Man kann diese Radikalisierung
       deutlich nachvollziehen. Vorher wusste man noch nicht so genau, was man mit
       den westeuropäischen Juden machen sollte. Die wurden erst nach der
       Wannsee-Konferenz deportiert.
       
       Also das, was mit den sowjetischen Juden passierte seit Juni 1941, sollte
       nun für alle gelten. 
       
       Ja. Das heißt, das Mordprogramm ist versteckt hinter den Kriegsaktivitäten
       angelaufen. Es sollte sozusagen im Schatten des Krieges passieren, damit
       die Weltöffentlichkeit es nicht sieht. Das sah man auch nach der
       Wannsee-Konferenz: Als die deutschen und westeuropäischen Deportationen
       voll anliefen, versuchte man, ein halbwegs "humanes" Vorgehen vorzuspielen:
       Anfangs wurde etwa bis zur polnischen Grenze mit Personenwagen deportiert.
       Ein anderer wichtiger Punkt der Konferenz war, dass dort auch Konflikte
       angesprochen wurden.
       
       Welche Konflikte? 
       
       Zwischen den Behörden. Heydrich hatte die Zivilverwaltungen eingeladen, des
       Generalgouvernements in Polen und der besetzten Ostgebiete, und die
       SS-Führer dieser Regionen. SS-Führer und Besatzungsverwaltungen haben sich
       ständig gestritten. Deshalb erklärte Heydrich in seinem langen
       Eingangsreferat, dass nur noch er zuständig war, unabhängig von allen
       territorialen Gliederungen.
       
       Im Protokoll und auch in der offiziellen Sprachregelung ist immer nur von
       "Endlösung" der Judenfrage, von "Sonderbehandlung" oder von "Osttransport"
       die Rede. War der Öffentlichkeit bekannt, was diese Verklausulierungen
       bedeuten? 
       
       Das ist eine der ganz wichtigen Fragen: Was wusste der durchschnittliche
       Deutsche? Es ist schwierig, darauf zu antworten. Man kann eindeutig sagen:
       Wer etwas wissen wollte, konnte sehr, sehr viel wissen - auch ohne
       privilegiert zu sein oder BBC zu hören. Seit dem Frühjahr 1942 berichteten
       Soldaten im Heimaturlaub ihren Familien von Judenerschießungen und
       Erschießungen von Zivilisten, die sie gesehen hatten. Dann gab es
       "Wehrkraftzersetzungsurteile", die immer radikaler wurden. Wir haben ein
       Beispiel hier in der Ausstellung dokumentiert: Eine Hausfrau bedauerte
       gegenüber zwei Nachbarinnen, dass im Osten die Juden umgebracht wurden. Sie
       wurde angezeigt und wegen "Wehrkraftzersetzung" zu zwei Jahren Haft
       verurteilt. Solche Urteile gab es viele. Das heißt, es gab schon ein
       ziemliches Wissen. Außerdem: Die Deportationen sind am helllichten Tage
       passiert. Glaubte man denn, was in den Zeitungen stand, dass die Juden
       umgesiedelt würden nach Osteuropa? Im Winter? Babys, alte Leute? Glaubte
       man denn, dass die eine Überlebenschance haben? Eigentlich konnte man sich
       keinen Illusionen hingeben. Aber wer nichts wissen wollte, der wusste eben
       nichts. Das ist ja immer so.
       
       Was wissen die Menschen heute, die in die Gedenkstätte kommen - vom Mythos
       Wannsee-Konferenz mal abgesehen? 
       
       Bei den Deutschen kann man sagen, dass ein Grundwissen sehr verbreitet ist
       - weil das Thema Holocaust so massiv behandelt wird. Das heißt nicht, dass
       bei allen tieferes Wissen vorhanden ist, etwa über die
       Radikalisierungsstufen oder darüber, wer involviert war. Aber es gibt ein
       Bewusstsein für das Thema. Für uns ist das teilweise ein Fluch, gerade bei
       Jugendlichen. Wenn sie merken, worum es hier geht, stöhnen sie oft: "Ach,
       schon wieder Holocaust." Die Jugendlichen stellen aber schnell fest, dass
       sie hier etwas Neues lernen, wenn sie sich mit Schicksalen von Menschen in
       ihrem Alter beschäftigen und den Dokumenten, die diese hinterlassen haben.
       Oder in Rollenspielen, für die sie sich in eine Situation hineinversetzen
       müssen. Das ist etwas anderes, als im Fernsehen etwas über die Nazizeit zu
       sehen.
       
       Wie wirkt der Ort hier auf die Besucher? Ist die Authentizität wichtig -
       obwohl nicht mehr viel zu sehen ist von damals außer dem Raum selbst? 
       
       Vor allem für Israelis ist es wichtig, in dem Raum zu stehen, wo die
       Vernichtung organisiert wurde. Die Besucher insgesamt empfinden vor allem
       den Kontrast zwischen der Idylle, dem See und dem grausamen Thema sehr
       stark: dass Schönheit und Schrecken so nahe beieinanderliegen.
       
       19 Jan 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Gannott
       
       ## TAGS
       
   DIR Shoa
       
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