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       # taz.de -- Abschiebungen nach Afghanistan: Unerträgliche Bigotterie
       
       > Innenminister Seehofer stoppt vorerst Abschiebungen nach Afghanistan.
       > Endlich – zu lange hat Deutschland aus Angst Völkerrecht ignoriert.
       
   IMG Bild: Die Taliban rücken weiter vor – im Bild drei Mitglieder der Taliban an einem Checkpoint in Farah
       
       Gut, dass sich Innenminister Horst Seehofer (CSU) korrigiert – und
       Abschiebungen nach [1][Afghanistan] vorerst stoppt. Diese Entscheidung ist
       richtig, sie war überfällig – und sie kommt viel zu spät. Die deutsche
       Abschiebepraxis der vergangenen Jahre hat gezeigt, wie dünn der Firnis der
       Zivilisation ist, wenn es um Menschen geht, die keiner will. Mit Seehofers
       Kurskorrektur endet fürs Erste eine Bigotterie, die schwer erträglich war.
       
       „Nichts ist gut in Afghanistan“, sagte Margot Käßmann 2010 in einer
       Neujahrspredigt. Ihr Satz gilt heute umso mehr: Afghanistan versinkt im
       Chaos. Nach dem Rückzug der Nato-Truppen sind die radikal-islamistischen
       [2][Taliban] auf dem Vormarsch. Selbst Kundus, wo bis vor Kurzem deutsche
       SoldatInnen afghanische Sicherheitskräfte ausbildeten, ist inzwischen in
       der Hand der Islamisten.
       
       Die Zustände für Rückkehrer sind lebensgefährlich. Die Bundesregierung hat
       dies monatelang nicht zur Kenntnis genommen. Viel zu lange stützte sie sich
       auf einen veralteten Lagebericht des Auswärtigen Amts, wonach es „starke
       regionale Unterschiede“ bei der Sicherheitslage und hinreichend sichere
       Gebiete für [3][Abschiebungen] gebe. Diese Beschreibung spottete der
       Realität. Die Bundesregierung ignorierte die Warnungen der
       Menschenrechtsorganisationen, das Flehen der afghanischen Regierung und die
       Kurswechsel anderer Länder wie Norwegen, Schweden oder Finnland.
       
       Die deutsche Abschiebepraxis wurde in Echtzeit widerlegt, jeder konnte es
       im Fernsehen sehen. Die Direktorin der Friedrich-Ebert-Stiftung in
       Afghanistan, Magdalena Kirchner, formulierte es in der Zeit neulich so:
       „Kabul ist eine Stadt, wo man für ein Handy erschossen werden kann.“
       
       Auch, dass das Innenministerium davon spricht, Abschiebungen „zunächst“
       auszusetzen, ist vielsagend. Offenbar geht es hier nicht um eine
       grundsätzliche Kurskorrektur. Afghanistan ist der beste Beweis dafür, wie
       widersprüchlich die deutsche Flüchtlingspolitik ist und wie schwer sich
       falsche Entscheidungen korrigieren lassen.
       
       Ein wichtiges Motiv für das lange Zögern der Bundesregierung war die Angst
       vor dem Stammtisch und der Bild-Zeitung. Innenminister Horst Seehofer (CSU)
       und Außenminister Heiko Maas (SPD) fürchteten, sich angreifbar zu machen:
       Es traf ja Leute, die allen unsympathisch sind – Straftäter, Gefährder oder
       Menschen, von denen vermutet wird, dass sie ihre Identität verschleiern.
       
       Verbrecher raus aus Deutschland, da traute sich kaum ein Politiker zu
       widersprechen. Seehofer fragte erst vor Kurzem: Wie man denn verantworten
       wolle, dass Straftäter nicht mehr in ihr Heimatland zurückgeführt werden
       könnten? Dieses brutale und populistische Argument begründete die Linie der
       Großen Koalition, seitdem sie im Oktober 2016 ein Rücknahmeabkommen mit der
       afghanischen Regierung vereinbarte. Wen störte, dass damit faktisch eine
       Doppelbestrafung etabliert wurde? Die Straftäter hatten ihre Strafe nach
       deutschem Recht oft schon verbüßt, bevor sie abgeschoben wurden.
       
       Auch das angeblich „verwirkte“ Gastrecht, das von Konservativen wie Armin
       Laschet gern ins Feld geführt wird, ist imaginiert. Ein Gastrecht existiert
       in der deutschen Rechtsprechung nicht. Was aber sehr wohl existiert, ist
       das sogenannte Non-Refoulement-Gebot. Dieser völkerrechtliche Grundsatz ist
       Teil der Genfer Flüchtlingskonvention und verbietet Abschiebungen, wenn im
       Zielland Folter, unmenschliche Behandlung oder Menschenrechtsverletzungen
       drohen.
       
       In Afghanistan ist das, nach allem was man weiß, nicht erst seit gestern
       der Fall. So richtig also Seehofers Einlenken ist: Die Bundesregierung muss
       sich den Vorwurf gefallen lassen, das Völkerrecht ignoriert und ein
       perfides Zweiklassenrecht etabliert zu haben: Für die einen galten die
       Menschenrechte, die ja universell sind – aber für die anderen nicht.
       
       Menschen in lebensgefährliche Situationen zu schicken, war auch vor
       Seehofers Entscheidung mit nichts zu rechtfertigen, auch wenn es um wenige
       Fälle ging (in diesem Jahr wurden 167 Menschen rückgeführt), auch wenn
       diese Menschen teils schlimme Straftaten begangen hatten. Um es
       stammtischtauglich zu formulieren: Arschlöcher verlieren ihre
       Menschlichkeit nicht durch ihr Arschlochsein. Seehofer und Laschet, die
       stolz auf das C im Parteinamen sind, könnten dieses Prinzip in der Bibel
       nachlesen. Die Stärke eines Rechtsstaats zeigt sich gerade darin, wie er
       mit den Schwachen, Hilflosen, und, ja, auch den Schuldigen umgeht. Er hat
       in den vergangenen Jahren ein zweifelhaftes Bild abgegeben.
       
       Grüne und Linke loben nun Seehofers Kurskorrektur – und gleichzeitig sich
       selbst. Schließlich hatten sie den Abschiebestopp lautstark gefordert.
       Grünen-Chef Robert Habeck hatte das Auswärtige Amt öffentlich aufgefordert,
       seinen Lagebericht zu Afghanistan zu revidieren. Der SPD-Vorsitzende
       Norbert Walter-Borjans hatte eine Haltung kritisiert, „die voll auf der
       menschenfeindlichen Linie von Populisten“ sei. Ähnlich hatte die Linke
       argumentiert.
       
       Aber von den hohen Zielen blieb in der Praxis nicht viel übrig, wenn sie
       selbst regieren. Weder SPD-MinisterpräsidentInnen noch grüne oder linke
       Regierungsleute setzten in den Bundesländern befristete Abschiebestopps
       durch, obwohl dies laut Aufenthaltsgesetz möglich gewesen wäre. Stattdessen
       zeigten sie lieber auf den Bund. Selbst Thüringen, wo ein
       Mitte-links-Bündnis regiert, oder das grün-schwarz regierte
       Baden-Württemberg schoben munter nach Afghanistan ab. Bodo Ramelow und
       Winfried Kretschmann ist bewusst, dass man mit dem Thema keinen Cent
       gewinnt.
       
       Es ist gut, dass die Abschiebungen nach Afghanistan vorerst enden. Aber
       dass sie jahrelang möglich waren, ist ein Offenbarungseid der deutschen
       Politik.
       
       12 Aug 2021
       
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