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       # taz.de -- Afrodiasporische Schriftstellerinnen: Hoffen auf die Köchin Halima
       
       > Seit über fünfzig Jahren schreiben afrikanische Schriftstellerinnen aus
       > der Diaspora. Zunehmend blicken sie auf Kolonialismus und Sklavenhandel.
       
   IMG Bild: Ayobami Adebayo schrieb mit „Bleib bei mir“ (2017) einen Roman von großer psychologischer Tiefe
       
       Zu den Hinterlassenschaften des Kolonialismus in Afrika gehört auch, dass
       sich eigenständige afrikanische Literaturen nicht entwickeln konnten. Als
       die europäischen Kolonisatoren den Kontinent in ihre Gewalt brachten, wurde
       die Lebensweise der lokalen Ethnien von der Kultur ihrer Besatzer
       überformt, Bildung fand zusammen mit christlicher Mission und in der
       Sprache der Kolonialherren statt.
       
       Die afrikanischen Schriftsteller*innen, deren Romane und Dramen seit
       den 1950er Jahren internationale Aufmerksamkeit erlangten, hatten
       überwiegend in den Ländern des globalen Nordens studiert. Ihre Bücher
       wurden dort, in der sogenannten Diaspora, publiziert und fanden danach erst
       den Weg nach Afrika.
       
       Das hat sich bis heute kaum geändert. So leben und schreiben die meisten
       afrodiasporischen Autor*innen in einem kulturellen „Dazwischen“ und
       richten in ihren Romanen den berühmten fremden Blick von Migranten auf
       Lebenswelten, denen sie in einem gebrochenen Verhältnis verbunden sind.
       
       Als die Nigerianerinnen Flora Nwapa (1931–1993) und Buchi Emecheta
       (1944–2017) in den 1960er und 70er Jahren die literarische Bühne betraten,
       erweiterten sie die afrodiasporische Literatur, bis dahin eine rein
       männliche Domäne, um die Perspektive afrikanischer Frauen.
       
       In ihren Romanen müssen die Protagonistinnen mit einer gesellschaftlichen
       Situation umgehen, die durch die Entwicklung Nigerias von einer
       vorkolonialen Stammesgesellschaft zu einem kolonialen beziehungsweise
       postkolonialen Staat entstanden ist: Die patriarchalen Strukturen bestehen
       fort, aber die eigenständigen Lebensmöglichkeiten, die die traditionelle
       Lebensweise in der Stammesgesellschaft den Frauen bot, gibt es nicht mehr.
       
       ## Scheitern einer alleinerziehenden Mutter
       
       Während die stolze Efuru in Nwapas gleichnamigem Roman (1966, dt. 1997) ihr
       Kind in den 1890er Jahren noch mithilfe der Dorfgemeinschaft großziehen und
       daneben fischen und Handel treiben kann, scheitert die verarmte und
       wurzellose Nnu Ego in Emechetas „Zwanzig Säcke Muschelgeld“ (1979, dt.
       1983) im Lagos des 20. Jahrhunderts daran, zugleich alleinerziehende Mutter
       und erwerbstätig zu sein.
       
       Emecheta verwendet in ihren Romanen große Sorgfalt darauf, den männlichen
       Sozialtypus zu schildern, der aus der Auflösung der traditionellen
       afrikanischen Sozialstrukturen hervorgegangen ist: arbeitsscheu, parasitär,
       machtvollkommen und im Zweifel auch gewalttätig. Für Emechetas
       Protagonistinnen Adah (in „Die Geschichte der Adah“ 1974, dt. 1987) und
       Kehinde (in dem gleichnamigen Roman von 1994, dt. 1996) ist es die moderne
       englische Gesellschaft, die es ihnen ermöglicht, sich aus der Unterdrückung
       durch ihre Ehemänner zu befreien.
       
       Auch [1][Tsitsi Dangarembgas] (*1959) Protagonistin Tambudzai in
       „Aufbrechen“ (1988, dt. zunächst unter dem Titel „Der Preis der Freiheit“
       1991) setzt alles daran, die Grenzen des ihr vorgezeichneten Lebens zu
       übersteigen. In ihrer simbabwischen Kleinbauernfamilie sichern die Frauen
       durch mühselige Plackerei den Lebensunterhalt, während Vater und Bruder
       jeder Arbeit aus dem Weg gehen und dabei pausenlos die Überlegenheit des
       männlichen Geschlechts reklamieren.
       
       Erst als ihr Bruder an einem Fieber stirbt, darf Tambudzai an seiner Stelle
       eine Missionsschule besuchen und im Haushalt ihres Onkels, des Leiters der
       Missionsschule, leben. Sie lernt dort einen modernen, am Vorbild des
       englischen „Mutterlands“ orientierten Mittelschichtsalltag kennen – in dem
       die Frauen jedoch genauso unfrei sind wie in Tambudzais dörflicher
       Herkunftsfamilie.
       
       ## Emotionale Tiefendimension
       
       Durch ihre Fähigkeit, den eigenen widersprüchlichen Gefühlen nachzugehen,
       gewinnt Tambudzai eine emotionale Tiefendimension, die den Protagonistinnen
       bei Nwapa und Emecheta überwiegend noch abgeht. Insofern bildet
       „Aufbrechen“ eine Art Brücke zwischen der frühen Literatur afrikanischer
       Frauen und späteren, psychologisch ausdifferenzierten Romanen.
       
       Wie zum Beispiel [2][„Americanah“ (2013, dt. 2014), der Publikumserfolg der
       nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie] (*1977). Als Wanderin
       zwischen den Kontinenten richtet die Protagonistin Ifemulu ihren kritischen
       Blick auf den US-amerikanischen Rassismus wie auch auf die fortbestehende
       Unfreiheit der nigerianischen Frauen.
       
       Die gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA erweitern nicht, wie das
       England Emechetas, die Lebensmöglichkeiten der afrikanischen Immigrantin,
       sondern Ifemulu erlebt hier, wie sie aufgrund ihrer Hautfarbe von
       kultureller Zugehörigkeit ebenso wie von jeder wirtschaftlichen Sicherheit
       ausgeschlossen bleibt.
       
       Auch die Nigerianerinnen Chinelo Okparanta (*1981) und [3][Ayobami Adebayo]
       (*1988) haben Romane von großer psychologischer Tiefen geschrieben: In
       „Unter den Udala Bäumen“ (2015; dt. 2018) und „Bleib bei mir“ (2017) stehen
       die weiblichen Hauptfiguren im Konflikt mit traditionellen Normen ihres
       Heimatlandes, in dem Homosexualität oder Kinderlosigkeit hart sanktioniert
       werden. Beiden Protagonistinnen gelingt es nur unter großen persönlichen
       Opfern, dem Druck von Familie und Gesellschaft zu widerstehen.
       
       Beinahe könnten Leser*innen meinen, die neuere afrodiasporische Literatur
       beschäftige sich hauptsächlich mit der Gegenwart afrikanischer
       Gesellschaften, da erscheinen auf dem internationalen Buchmarkt gleich drei
       Romane, die die Vergangenheit des Kontinents in den Blick nehmen. Es geht
       um die großen Katastrophen der afrikanischen Geschichte, um Sklaverei,
       Menschenhandel und koloniale Überwältigung.
       
       ## Die Brutalität des Sklavenhandels
       
       In den Romanen der ghanesischen Autorinnen [4][Yaa Gyasi] (*1989) und
       Ayesha Harruna Attah (*1983), „Heimkehren“ (2016) und „Die Frauen von
       Salaga“ (2018, dt. 2019) entwickelt sich die Handlung vor dem Hintergrund
       des westafrikanischen Sklavenhandels im 19. Jahrhundert, der in seiner
       ganzen Brutalität beschrieben wird: die Kriege afrikanischer Stämme
       gegeneinander, das Morden und Brandschatzen, der Verkauf der Überlebenden
       an lokale Sklavenhalter oder englische Händler, die ihre menschliche Fracht
       in die Neue Welt überstellen.
       
       Am Ende des 19. Jahrhunderts, in dem schmalen Zeitfenster zwischen
       transatlantischem Sklavenhandel und der Kolonialisierung Afrikas, spielt
       der Roman der simbabwischen Autorin Petina Gappah (*1971) mit dem
       vieldeutigen Titel „Aus der Dunkelheit strahlendes Licht“ (2019).
       
       Er greift ein bekanntes historisches Ereignis auf: Nach dem Tod des
       britischen Missionars und Afrikaforschers David Livingstone 1873 trugen
       seine afrikanischen Gefolgsleute, mehrheitlich befreite Sklaven, seinen
       Leichnam in einem mehrmonatigen Leichenzug von Zentralafrika bis an die
       Ostküste, damit er in seiner Heimat begraben werden konnte.
       
       Von ihren Beweggründen zeichnet der Roman ein facettenreiches Bild. Respekt
       und sogar Zuneigung für den Expeditionsleiter stehen neben individuellen
       Wünschen nach Freiheit, Sicherheit oder persönlichem Vorteil. Eine
       kollektive Erzählstimme weist zu Beginn des Romans auf einen
       unbeabsichtigten Nebeneffekt des Leichenzugs hin: Die wissenschaftlichen
       Aufzeichnungen Livingstones, die zusammen mit seinem Leichnam an die
       Engländer übergeben wurden, bereiteten den Weg für die spätere Unterwerfung
       des Kongos durch die Europäer.
       
       ## Kein unschuldiges vorkoloniales Afrika
       
       Es gibt in diesem Roman jedoch auch kein unschuldiges vorkoloniales Afrika.
       Die ostafrikanischen Stämme nehmen Sklaven unter ihren Gegnern und sogar in
       der eigenen Familie und verkaufen sie an swaheli-arabische Sklavenhändler,
       deren Marktplatz das Sultanat Sansibar ist. Es sind britische
       Abolitionisten, die den 14-jährigen Jacob Wainwright aus einem
       Sklavenschiff befreien und an eine Missionsschule in Indien bringen.
       
       Als selbsternannter Schreiber des Leichenzugs und als Wanderer zwischen den
       Kontinenten könnte der erwachsene Jacob Wainwright den fremden Blick
       entwickeln, der Kulturen kritisch vergleicht, aber seine
       Kindheitserfahrungen haben ihn gebrochen und zur Karikatur eines Europäers
       werden lassen. Seine Aufzeichnungen mit ihrer gestelzten, von Bibelzitaten
       durchzogenen Sprache erinnern daran, dass es einen Zugang zur afrikanischen
       Vergangenheit nur über die schriftlichen Zeugnisse derjenigen gibt, die
       durch Mission und Bildung in die ideologische Nähe der Kolonisatoren
       gerückt waren.
       
       Am Schluss des Romans blitzt so etwas wie die Möglichkeit eines anderen, in
       der unseligen Geschichte der beiden Kontinente unter Gewalt und Zorn
       begrabenen Verhältnisses zwischen Europäern und Afrikanern auf. Denn die
       Köchin Halima, als sie endlich ihren Lebenstraum erfüllen und als freie
       Frau in ihre Heimat zurückkehren kann, räumt der Erinnerung an ihren
       Befreier Livingstone einen freundlichen Ort in ihren Gedanken ein.
       
       Für sich erfindet Halima eine afrikanische Patchwork-Identität: In ihre
       Haustür lässt sie Ornamente aus verschiedenen Kulturen Ostafrikas schnitzen
       und verlässt das arabische Sansibar, um in Ostafrika eine neue Heimat zu
       finden.
       
       Die Position des kulturellen „Dazwischen“, die Freiheit, verschiedene
       Lebensweisen und kulturelle Ordnungen zu kennen und gedanklich wie
       lebenspraktisch zwischen ihnen zu navigieren, sie ist in diesem Roman einer
       Frau zugefallen, einer ehemaligen Sklavin ohne jede formale Bildung, aber
       mit einem von kolonialen Beschädigungen weitgehend unbeeinträchtigten
       Blick.
       
       2 Aug 2020
       
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