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       # taz.de -- Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit: Niemand soll mehr wohnungslos sein
       
       > Etwa 50.000 Menschen leben auf der Straße. Nun hat das Kabinett einen
       > ersten Aktionsplan beschlossen – mit teils vagen Formulierungen.
       
   IMG Bild: Ein Zuhause ohne vier Wände: Eine Straßenszene in der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg
       
       Berlin taz | Ein junger Mann mit Vollbart und wuscheligem Haar parkt einen
       Einkaufswagen mit seinen Habseligkeiten vor einem Altbau am Berliner
       Ostbahnhof. Es ist Mittwoch, er will in die Obdachlosenpraxis, sagt er. Der
       Sozialdienst lässt ihn nicht herein. Ein Mitarbeiter sagt: „Ich diskutiere
       nicht mit Ihnen, Sie haben Hausverbot.“ Am Vortag habe er eine andere
       Person bedroht. Während der Obdachlose draußen mit den Mitarbeitenden
       weiter diskutiert, erhält die [1][Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD)],
       auch mit Fußballprofi Robin Gosens und einem ehemals Wohnungslosen, eine
       Führung durchs Haus.
       
       Sie will den [2][Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit]
       vorstellen, hat das Thema zur Chefinnensache erklärt: „Die
       Herausforderungen der Wohnungslosen sind so komplex, dass wir die Kommunen
       damit nicht mehr länger alleinlassen können“, sagt sie. Das Ziel: Bis 2030
       soll keiner mehr ohne Wohnung sein. Vor dem Hintergrund der großen
       Wohnungsnot, insbesondere im sozialen Wohnungsbau, fühlt sie sich als
       Bauministerin verantwortlich.
       
       Denn eigentlich sind Länder und Kommunen dafür zuständig, Obdachlosigkeit
       zu bekämpfen. Beteiligt am Plan waren nun Bund, Länder und nichtstaatliche
       Akteure, unter anderem die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe
       (BAG W), die Freie Wohlfahrtspflege oder der Deutsche Mieterbund. Dieser
       Plan ist also der erste Versuch, gemeinsame Leitlinien für „diese große
       gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ zu formulieren.
       
       Rund 180.000 der Wohnungslosen seien zum Beispiel in Notunterkünften
       untergebracht, darunter rund 47.200 Kinder und minderjährige Jugendliche,
       sagt Ministerin Geywitz. Zudem lebten schätzungsweise rund 86.700 Personen
       auf der Straße oder seien bei Freunden untergekommen. Wie viele es
       tatsächlich sind, weiß niemand so genau.
       
       ## Krankenversicherung und Zugang zu Internet
       
       Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe [3][(BAG W)] schätzt
       hingegen, dass aktuell über 600.000 Menschen hier wohnungslos sind, etwa
       50.000 davon auf der Straße. Einer von ihnen war Dominik Bloh, heute ist er
       Aktivist und sitzt neben der Bauministerin. „Wohnungslosigkeit ist kein
       individuelles Problem, sondern ein gesellschaftliches“, sagt er. Der
       Aktionsplan sei ein richtiger erster Schritt. „Erstmals sind wir sichtbar.“
       
       Herausgekommen sind neben einer ausführlichen Bestandsaufnahme der
       aktuellen Probleme neun unverbindliche Leitlinien mit teils vagen Sätzen.
       Zum Beispiel: Alle Beteiligten „arbeiten im Rahmen ihrer Verantwortung
       daran, dass jede wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Person (…)
       ein passendes Wohnungsangebot erhält.“
       
       Oder: Mit Prävention soll „Wohnungslosigkeit wann immer möglich vermieden“
       werden. Für unversicherte, obdachlose Menschen soll der Zugang zur
       Krankenversicherung und Gesundheitsversorgung überprüft werden sowie der
       Zugang zum Internet erleichtert werden. Und ein Punkt, der Klara Geywitz
       besonders wichtig ist: In Notunterkünften soll auf „menschenrechtskonforme
       Mindeststandards“ hingewirkt werden.
       
       Neben den Leitlinien werden noch 31 Maßnahmen aufgezählt, etwa wie viel
       Geld vom Bund für den sozialen Wohnungsbau bereit gestellt wird. Das sind
       18,15 Milliarden Euro von 2022 bis 2027. Trotzdem fallen bislang [4][noch
       mehr Sozialwohnungen] aus ihrer Preisbindung, als neue entstehen. Zudem
       sollen mietrechtliche Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt
       werden. Genannt wird aber nur die Verlängerung der Mietpreisbremse. In
       einer früheren Version stand auch eine Maßnahme, um den Mietpreisanstieg
       etwas abzufedern. Der fehlte in der Endversion und das ist wohl auf
       Streitigkeiten innerhalb der Koalition zurückzuführen.
       
       ## Viele haben Angst, auf der Straße zu landen
       
       Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW), die
       Wohnungslosenhilfe BAG W und der Deutsche Städtetag begrüßten in einer
       [5][gemeinsamen Presseerklärung] die Leitlinien auf Bundesebene. Das werde
       aber „nicht genügen, um das ambitionierte Ziel Realität werden zu lassen“,
       kritisierten sie. Es brauche „auch politische Handlungsspielräume und
       finanzielle Ressourcen sowie eine Ausweitung des Mieter:innenschutzes“,
       sagte Sabine Bösing, Geschäftsführerin der BAG Wohnungslosenhilfe. Es
       erreichten sie fast jeden Tag Hilfegesuche von Menschen, die Angst hätten,
       auf der Straße zu landen.
       
       Bundestagsabgeordnete Caren Lay (Die Linke) bezeichnete den Aktionsplan als
       Augenwischerei. „Mieterhöhungen, das Fehlen bezahlbarer Wohnungen und
       Kündigungen sind die Auslöser von Wohnungslosigkeit“, sagte sie der taz.
       Viele kleine Ansätze des Aktionsplans könnten nicht darüber hinwegtäuschen,
       dass die Kernprobleme nicht gelöst werden. Zwangsräumungen gehörten
       verboten, um Wohnungslosigkeit zu verhindern.
       
       Grünenpolitiker*in Hanna Steinmüller betonte, dass das Konzept
       Housing first zentral sei. Sie würde es begrüßen, wenn es im Rahmen des
       sozialen Wohnungsbaus „eine spezielle Förderung für Housing-first-Projekte
       gäbe und Wohnungen geschaffen werden, die gezielt für diese Gruppe infrage
       kämen“.
       
       Auf die Kritik der Verbände reagierte Klara Geywitz gelassen. Der Plan „sei
       nur ein Anfang“, sagte sie. Wichtig sei zum Beispiel auch, zu klären, was
       mit obdachlosen EU-Ausländern passiert. Diese haben nämlich oft keinen
       Zugang zur Sozialhilfe und können nur sehr wenige Hilfsangebote nutzen.
       
       24 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Bundesbauministerin-Klara-Geywitz/!5939857
   DIR [2] https://www.bmwsb.bund.de/Webs/BMWSB/DE/themen/stadt-wohnen/nap-gegen-wohnungslosigkeit/nap-gegen-wohnungslosigkeit-node.html
   DIR [3] https://www.bagw.de/de/
   DIR [4] /Mietrechtsnovelle-liegt-auf-Eis/!5986392
   DIR [5] https://www.bagw.de/de/presse/show?tx_netnews_newsview%5Baction%5D=show&tx_netnews_newsview%5Bcontroller%5D=News&tx_netnews_newsview%5Bnews%5D=305&cHash=319677dbc8dcf563f90165a9f69e8e6d
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sean-Elias Ansa
   DIR Jasmin Kalarickal
       
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