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       # taz.de -- Aktivist Mike Davis ist tot: Schreibender Stadtguerillero
       
       > Mike Davis wollte die Welt zu einem besseren Ort machen. Nun ist der
       > US-amerikanische Urbanist und Aktivist mit 76 Jahren gestorben. Ein
       > Nachruf.
       
   IMG Bild: Wollte am liebsten auf einer Barrikade sterben: Mike Davis (1946-2022)
       
       Manche Besucher und Bewohner lieben Los Angeles, die meisten hassen es.
       Dafür, dass man seine Nachteile, ach was: Monstrosität kritisch aufspießen
       und das Monster dennoch lieben kann, ist der am Montag im Alter von 76
       Jahren an Speiseröhrenkrebs verstorbene Autor Mike Davis das beste
       Beispiel.
       
       Das von ihm 1990 erschienene Kultbuch „City of Quartz“, immer wieder
       aufgelegt, in ein Dutzend Sprachen übersetzt und auf der Leseliste jedes
       Urbanismus-Seminars zu finden, scheint das Gegenteil zu belegen, weil es
       mit sämtlichen Mythen und Illusionen der Flitterstadt abrechnet. „Aber
       genau das ist die Aufgabe eines Radikalen – man muss den anderen in die
       Parade fahren.“
       
       Für mich ist Mike Davis der Idealtyp eines amerikanischen radical:
       Aufgewachsen in armen Verhältnissen, in der Bürgerrechtsbewegung vom
       ultrakonservativen Redneck zum Anarchisten konvertiert und erst bei der
       Kommunistischen Partei Südkaliforniens, dann bei den Students for a
       Democratic Society, dem amerikanischen SDS, eingeschrieben, als Truckfahrer
       für Metzgereien und mit Barbie-Puppen unterwegs, bevor ihm seine Bücher
       Ruhm und Professuren an kalifornischen Universitäten eingebracht hatten,
       war er immer mit denjenigen, die nicht auf der Sonnenseite der
       US-Gesellschaft standen.
       
       ## „Malibu brennt. Lasst es brennen“
       
       „Malibu brennt. Lasst es brennen“ ist der Titel eines provokanten Kapitels,
       mit dem er darauf hinweisen wollte, dass nicht nur die palmengesäumten
       Reichenviertel brennen und beschützt werden müssen, sondern vor allem die
       ärmeren Teile der Stadt im Süden und Osten unter Hitze, Trockenheit und
       Bränden leiden, wo keine Palmen Schatten spenden.
       
       Als ich Davis Anfang der 90er Jahre kennenlernte, waren schon viele Unruhen
       in der Stadt ausgebrochen, worüber er 2020 in „Set the Night on Fire: L. A.
       in the Sixties“ (mit Jon Weiner) berichtet, aber noch nicht diejenigen, die
       auf die Prügelattacke weißer Polizisten auf Rodney King 1992 folgten und
       die Weißen in ihre Häuser flüchten ließen.
       
       Warum sich die Rache der Afroamerikaner dann vor allem gegen asiatische
       Händler und Geschäfte richtete, wie also statt Klassen- wieder Rassenkampf
       einsetzte, auch dafür fand ich in „City of Quartz“ (und den nachfolgenden
       Büchern („Ökologie der Angst. Los Angeles und das Leben mit der
       Katastrophe“ und „Planet der Slums“) viele Hinweise.
       
       Dass sich Davis intensiv Problemen der „Dritten Welt“ zuwandte („Late
       Victorian Holocausts: El Niño Famines and the Making of the Third World“),
       lag schlicht daran, dass L. A. für ihn zu dieser gehörte – inklusive der
       [1][Klimakatastrophen und Pandemien, die Davis, schon selbst von der
       Krankheit gezeichnet, zuletzt beschäftigt haben].
       
       ## Recherche und Erzählung
       
       Die genannten Studien bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen
       wissenschaftlicher Recherche und romanhafter Erzählung, vieles hat mehr mit
       Intuition als mit Investigation zu tun, Faktchecker der New York Times
       machten bei seinen Texten gelegentlich Beute. „I’m not a writer’s writer at
       all“, kommentierte er das Blatt selbstbewusst, „but I am a damn good
       storyteller.“
       
       Mike Davis war mit Fremden immer ein wenig einsilbig (und unter Freunden
       voller schwarzem Humor), er ließ sich ungern zu Vorträgen einladen und war
       das Gegenteil von jenen public intellectuals, die sich hofieren lassen wie
       Filmdiven. Für seinen schonungslosen Realitätssinn über die Defekte der
       amerikanischen Gesellschaft war er als „Apokalyptiker“ verschrien, dabei
       schrieb er nur, um die Verhältnisse zu ändern und die Welt zu einem
       besseren Platz zu machen.
       
       „Ausgrabungen der Zukunft“ lautet der Untertitel der „City of Quartz“. Den
       Occupy-Rebellen erwies er Reverenz, ohne sie belehren zu wollen, für die
       Last Generation hatte er zweifellos Sympathien, Resignation war für ihn
       undenkbar.
       
       Sein Rat, in dem er Helden seiner Jugend benannte: „Ein Dissident muss die
       Sprache des Volkes sprechen. Die moralische Dringlichkeit eines Wandels
       tritt dann am klarsten hervor, wenn sie in einer klaren Sprache ausgedrückt
       wird. Tatsächlich haben es die bedeutendsten radikalen Stimmen in den USA
       der sechziger Jahre – Tom Paine, Sojourner Truth, Frederick Douglas, Gene
       Debs, Upton Sinclair, Martin Luther King, Malcolm X und Mario Savio – immer
       verstanden, die Amerikaner in den vertrauten Begriffen einer
       Gewissenstradition anzusprechen.“
       
       Am liebsten, scherzte er jüngst in einem Interview, wollte er auf einer
       Barrikade sterben. Der Krebs hat ihm diesen Gefallen nicht getan.
       
       27 Oct 2022
       
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