URI: 
       # taz.de -- Alexijewitsch und Harms zu Tschernobyl: „Das Böse ist total geworden“
       
       > Die weißrussische Nobelpreisträgerin und die Vorsitzende der EU-Grünen
       > reden über den GAU, Merkel und den Umgang mit der Flüchtlingssituation.
       
   IMG Bild: Swetlana Alexijewitsch und Rebecca Harms im Gespräch
       
       taz: Frau Alexijewitsch, der wichtigste Satz Ihres Tschernobyl-Buches
       lautet: Tschernobyl ist unsere Zukunft. Was bedeutet das? 
       
       Swetlana Alexijewitsch: Als ich vor 30 Jahren „Eine Chronik der Zukunft“
       geschrieben hatte, konnte der Eindruck entstehen, das sei ein
       künstlerischer Einfall. Aber nach der Katastrophe von Fukushima nicht mehr.
       Seither ist es offensichtlich, dass der Mensch von seinem ihm von der Natur
       zugewiesenen Platz abgerückt ist und mit der Natur aus der Position des
       Stärkeren spricht. Und natürlich nimmt die Natur Rache an uns. Für mich war
       alles schon offensichtlich, als ich an den ersten Tagen nach dem Unglück in
       Tschernobyl war. Die Militärs rannten mit ihren Maschinenpistolen hin und
       her. Da war die absolute Ohnmacht der modernen Zivilisation zu sehen
       angesichts dieser neuen Realität.
       
       Rebecca Harms: Es gab keine Erfahrung, kein Koordinatensystem, mit dem das
       Geschehen eingeordnet werden konnte. Die Armee und der Ausnahmezustand
       ließen an Krieg denken. Und daher reagierte man in alten Mustern. Als sei
       die Katastrophe wie ein Krieg.
       
       Alexijewitsch: Es ist eine absolut neue Situation entstanden: Das Böse ist
       total geworden. Der Mensch bekam plötzlich Angst vor Gras, vor Wasser, vor
       den Vögeln. Ich kann mich noch gut an die Gesichter der Menschen erinnern,
       als die Militärs sie anwiesen, ihre Eier und Hühner zu begraben. Der Soldat
       schaute genauso verrückt drein wie die alte Frau, der er das befahl.
       
       Harms: Als ich 2012 in Fukushima war, stellte ich fest, dass die gleichen
       Fehler gemacht wurden wie 1986 in Tschernobyl. Zum Beispiel hat man kein
       Jod verteilt.
       
       Alexijewitsch: Warum lief das so? Die Machthaber waren sicher, dass dieses
       Unglück in Tschernobyl nichts mit ihnen zu tun hat. Mir ist in dieser Zeit
       klar geworden, dass an der Macht lauter Mittelmaß unterwegs ist. Aber die
       Situationen, mit denen wir konfrontiert werden, erfordern kluge Köpfe. Das
       Wissen ist zwar vorhanden, aber abgekapselt nur bei den Wissenschaftlern.
       Die Machthaber leben komplett getrennt davon. Heutzutage muss beides
       zusammenkommen.
       
       Harms: Es gab damals doch schon die Perestroika-Menschen, wie Sie sie oft
       genannt haben.
       
       Alexijewitsch: Die gingen auf die Straße, waren auf den Plätzen. Doch in
       der Führung waren nach wie vor dieselben sowjetischen Apparatschiks.
       
       Harms: Als ich Ihr Buch über Tschernobyl jetzt wieder gelesen habe, hat
       mich etwas neu erschreckt, worüber ich schon bei meinem Besuch 1988 in der
       Zone erschrocken war. Das Leben der Menschen, gerade auch derjenigen, die
       als Liquidatoren eingesetzt werden …
       
       … Soldaten, AKW-Personal und Freiwillige, die reparierten, aufräumten, zu
       retten versuchten. 
       
       Harms: Ihr Leben verwandelt sich in furchterregende ScienceFiction. Aber
       sie versuchen, normal weiterzuleben. Nur wenige laufen weg.
       
       Alexijewitsch: Das waren ganz neue Verhältnisse, aber dieser riesige Raum
       des Volkslebens bestand ja weiter. Das neue Wissen konnte nicht sofort in
       das Denken der Bauern eindringen oder in das Denken der Generäle, nicht
       einmal in das der Schriftsteller. Nur wenige begriffen, was da vor sich
       ging. Einmal war ich bei einem Treffen mit Gorbatschow, und man hat ihn
       gefragt: Wie konnten Sie so unbedacht die Menschen dort einsetzen, von
       denen dann viele starben? Er antwortete: Glauben Sie mir, die Kollegen
       haben mir versichert, es sei nichts Schlimmes dabei. Oder als nachts das
       AKW brannte, die Menschen in den Dörfern ringsherum und in diesem Städtchen
       Pripjat erzählten mir, wie sie ihre Kinder auf die Balkone führten und
       sagten: Schaut mal, wie schön das aussieht. Dabei haben sie den Tod
       eingeatmet. Vor meinen Augen verwandelte sich der Vor-Tschernobyl-Mensch in
       einen Tschernobyl-Menschen.
       
       Für Tschernobyl-Menschen gibt es keinen Schutz durch Grenzen, durch Waffen
       und auch nicht durch Liebe. Es ist eine furchtbare Szene, als die Ärzte zu
       den Frauen der Verstrahlten sagen: Gehen Sie weg, das sind verseuchte
       Objekte. 
       
       Alexijewitsch: Sie sagen ihnen, das sei kein geliebter Mensch mehr, sondern
       ein radioaktives Objekt. Da entstehen eine Menge moralischer Probleme:
       Besucht man einen solchen Ehemann oder doch nicht? Nimmt man ein erkranktes
       Kind auf die Arme oder nicht? Eine schwangere Frau geht zu ihrem Ehemann
       und bringt dann ein Kind zur Welt, das nur ein paar Stunden lebt.
       
       Harms: Oder missgestaltete Kinder werden geboren, die auch geliebt werden
       wollen. Sie sprechen im Buch davon, dass die Liebe zur Qual der Frauen
       werde.
       
       Alexijewitsch: Seit fünf Jahren sterben alle Menschen um mich herum an
       Krebs, an den Folgen von Tschernobyl. Das ist offensichtlich, weil es keine
       solche Menge von Krebstoten auf einmal geben kann. Wir leben in der
       Tschernobyl-Welt, wir trinken vergiftetes Wasser, die Erde ist vergiftet.
       Nach und nach dringt das Gift in die Menschen ein.
       
       Harms: Einer meiner traurigsten Gedanken ist, dass es in großen Gebieten
       Weißrusslands und der Ukraine normal geworden ist, dass Kinder ans Sterben
       denken und dass der Tod die Kindheit begleitet.
       
       Alexijewitsch: Das ist so, wenn in jeder Familie ständig jemand stirbt,
       auch Kinder. Einer der Betroffenen hat zu mir gesagt: Wir sind wie die
       menschlichen Blackboxes, die die Tschernobyl-Informationen für alle
       mitschreiben. Dem entgegen steht die deutsche oder bis vor kurzem die
       japanische Denkweise, dass der Mensch ein so großes Ereignis verdrängt und
       es nicht bis zu Ende begreift.
       
       Harms: In der Situation von Tschernobyl sind die Leute nicht geflüchtet,
       sondern haben sich einem Feind gestellt, den sie nicht bezwingen konnten.
       Viele begriffen ja doch, dass der Einsatz vor Ort, aber auch das Leben mit
       den Folgen der Katastrophe sehr gefährlich sind. Sie stellten sich, weil
       sie unbedingt leben wollten. Obwohl sie Gigantisches leisteten, hatten sie
       keine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Diese Niederlagen der vielen
       Menschen in Tschernobyl haben dazu geführt, dass die Sowjetunion
       zusammengebrochen ist. Das wurde zum Sprengsatz. Das und Afghanistan.
       
       Alexijewitsch: Das waren die gewaltigen Risse in diesem riesigen Gebäude
       Sowjetunion. Ich würde aber sagen, Rebecca, dass nicht nur die Russen oder
       Sowjets den Krieg gegen Tschernobyl verloren haben. Die Menschheit hat ihn
       verloren. Die gesamte Menschheit hat keine Waffen für diesen Kampf. Unsere
       Zukunft ist ein Menschheitsproblem. Auch in Fukushima schaffen sie es immer
       noch nicht, die Situation zu bewältigen. Es werden noch viele solche
       Situationen kommen: sei es wegen des Atommülls, sei es wegen der
       Terroristen, die sicher irgendwann die Wirkung der nuklearen Gefahr
       ausnutzen werden.
       
       Ihr Fazit, Frau Alexijewitsch: Die Welt hat sich durch Tschernobyl radikal
       verändert, aber der Mensch hat nichts dazugelernt. 
       
       Alexijewitsch: Richtig. Als man die Russen aus den ehemaligen
       Sowjetrepubliken vertrieb, sind viele, weil sie ja nicht reich waren, in
       die verlassene Gegend um Tschernobyl gefahren. Als ich solchen Menschen
       dort begegnete, fragte ich eine Frau mit Kindern: Wieso sind sie hierher
       gekommen? Sie antwortete mir: Warum denn nicht, hier wird doch nicht
       geschossen! Und dann starben ihre Kinder eins nach dem anderen, und sie
       konnte es sich nicht erklären. Die sind allein gelassen worden. Deswegen
       ist es notwendig, dass der Staat für die Verbreitung dieses Wissens sorgt.
       
       Ich würde gern eine Analogie zur aktuellen Flüchtlingssituation
       diskutieren. Auch das ist ein grenzenloses Problem der Menschheit. Man
       versucht, es mit altem Denken, mit Grenzen gegen Menschen zu lösen. 
       
       Alexijewitsch: Genau, wir sind in einer neuen Realität. Es gibt eine
       Hysterie, die einige angesichts der Flüchtlinge erfasst hat. Da müssen die
       Staaten eine neue Philosophie erarbeiten, um für Fremde bereit zu sein. Da
       kommen nicht mehr unbedingt Menschen mit Waffen, da kommen jetzt Menschen
       mit ihrem Unglück. Wenn man die Berichte über die Klimaerwärmung und den
       steigenden Meeresspiegel liest, kann man sicher sein, dass die Anzahl der
       heutigen Flüchtlinge uns morgen als gar nicht so hoch erscheinen wird. Vor
       Kurzem war ich in Sibirien, da hat mich der Gedanke eines Lehrers
       verblüfft. Wir sind über die endlose Taiga geflogen, und er sagte: In der
       nahen Zukunft wird hier alles besiedelt – und nicht nur von den Russen.
       
       Im wohlhabenden Westen glauben viele nicht mehr an eine gute Zukunft und
       klammern sich an die Illusion einer ewigen Gegenwart oder gar einer
       besseren Vergangenheit. 
       
       Alexijewitsch: Heute macht die Zukunft nur noch Angst. Zum ersten Mal
       gewinnt die Gegenwart gegenüber der Zukunft. Tschernobyl ist zu einer
       Metapher geworden: Die Probleme werden immer größer, aber unsere Kultur ist
       nicht darauf vorbereitet. Mich als Schriftstellerin erschüttert es am
       meisten, dass gerade wir Menschen der Kultur nicht auf die Zukunft
       vorbereitet sind.
       
       Harms: Swetlana Alexijewitsch, Sie haben jüngst bei einer Lesung in Berlin
       gesagt, es sei so traurig, dass aus all dem Leiden in Ihrem Land nie
       Freiheit entstehen konnte. Ich versuche zu verstehen, was es bedeutet, wenn
       in einem Teil des Kontinents, in dem schon alle Verheerungen des letzten
       Jahrhunderts am schlimmsten waren, auch noch die Atomkatastrophe geschieht.
       
       Alexijewitsch: Wenn ein Mensch in einem Lager einsitzt, so wie wir ja
       gelebt haben, und das Leben grausam ist, woher kann da die Freiheit
       erwachsen? Aus einem Lager wächst keine Freiheit. Wenn ich mit den Menschen
       in Weißrussland spreche, wird mir klar, dass sie keine Erfahrung mit einem
       anderen Leben haben. Nur mit einem Leben des Leidens. Die Weißrussen haben
       eine Sklavenmentalität. Es ist eine kleine Nation, sie war immer
       unterdrückt. Und dagegen steht Russland mit seiner imperialen Mentalität.
       Das Problem des Künstlers von heute ist nicht, dass ich einen Konflikt mit
       Putin oder Lukaschenko habe, sondern dass ich einen Konflikt mit dem
       eigenen Volk habe. Gebrauch von der Freiheit können nur freie Menschen
       machen, aber wo sind sie?
       
       Warum war Putin die Antwort auf Perestroika? 
       
       Alexijewitsch: Nach der Perestroika verwandelte sich die Gesellschaft in
       eine anarchistische Verbrecherbande. Die Gesellschaft atomisierte sich,
       regiert wurde das Ganze von den Gangstern vor Ort. Erst als Putin die
       bekannten Losungen wie ein Mantra aussprach – „Großes Russland“ und „Wir
       sind wieder groß“ –, begann sich das einheitliche Volksgebilde wieder
       aufzurichten. Denn wie das Leben auf diese Weise funktioniert, wusste man
       ja.
       
       Waren diejenigen naiv, die dachten, sie könnten eine solidarische
       Demokratie aufbauen, im Osten Deutschlands und im Osten Europas? 
       
       Alexijewitsch: Natürlich. Ich denke, wir, die wir an der Perestroika
       gearbeitet haben, waren sehr naiv. Es war so eine schöne naive Zeit. Aber:
       für solche Veränderungen braucht man Zeit. Diese neuen Totalitarismen im
       postsowjetischen Raum können die Zeit nicht aufhalten.
       
       Harms: Es war erschreckend, wie im Osten der Ukraine über Nacht die
       überwunden geglaubten Feindbilder wiederkehrten. Wie schnell
       nationalistisches Denken zu aktivieren war und das Brudervolk der Ukrainer
       unter Faschismusverdacht gestellt wurde. Und die Idee, dass die eine Nation
       oder ein Volk besser ist als andere und sich abgrenzen muss, findet heute
       überall in Europa neue Anhänger.
       
       Alexijewitsch: Das ist wieder der Fall, seit der Kleinbürger in den
       Vordergrund der Geschichte getreten ist. Deswegen gewinnt diese spießige
       Denkweise die Oberhand. Sie gründet sich auf Angst und Hass. Die Kultur der
       Sklaverei lässt sich bei uns nur sehr schwer begraben, das dauert. Weder
       Russen, Weißrussen oder Ukrainer waren je frei. Ich war vor Kurzem in der
       Ukraine und war begeistert, wie die Augen der jungen Menschen leuchten. Sie
       wollen ein anderes Land schaffen. Aber sie müssen gegen die eigenen Eltern
       ankämpfen, gegen deren starre Vorstellungen von ihrem sklavischen Leben.
       Der schlimmste Feind der Ukraine ist nicht einmal Russland, obwohl es ein
       schrecklicher Feind ist. Sondern die alte Ukraine selbst. Wenn die Ukraine
       im Inneren stark wäre, würde sie auch mit Russland fertig.
       
       Harms: Glauben Sie dass im Westen verstanden wird, was in Osteuropa
       geschieht? Und versteht der Westen, was im Kreml passiert?
       
       Alexijewitsch: Das verstehen nicht einmal wir selbst. Was hat man sich den
       Kopf zerbrochen, wo das ganze Geld vom Erdöl abgeblieben ist! Erst im
       Nachhinein wird klar: Es floss an die Armee und in neue Schiffe, neue
       Flugzeuge, neue Panzer. Man dachte, die Resultate der Perestroika seien
       unumkehrbar, doch in Wirklichkeit ist alles sehr wohl umkehrbar. Und der
       Westen dachte in seiner Überheblichkeit, man hätte gewonnen.
       
       Der Westen tut, als gebe es ein moralisches Gefälle zu den osteuropäischen
       Ländern. Wie Polen und Tschechien sich flüchtlingspolitisch verhalten, gilt
       in Deutschland als moralisch minderwertig. 
       
       Alexijewitsch: Wenn ich nach Hause komme, höre ich ständig: Warum hat der
       Westen das nötig? Man muss sich klarmachen, dass der Westen und seine neuen
       Partner in verschiedenen Zeiten leben. Dort sind Menschen an der Macht, die
       im Geiste sowjetischer Ideen erzogen wurden. Und die wichtigste Idee war,
       dass überall nur Feinde sind. Ein Russe kommt viel eher mit jemandem aus
       dem exsozialistischen Lager klar als der Westen. Und sei es auf Grundlage
       des gemeinsamen Hasses. Das hat mich schon immer bei den westlichen
       Menschen gewundert: Dieser Glaube, dass man das Gute in Päckchen irgendwo
       anliefert und verteilt. Dass man es in die Köpfe schiebt, und das war’s.
       Nein, so geht es nicht.
       
       Wie sehen Sie Bundeskanzlerin Merkel, Frau Alexijewitsch? 
       
       Alexijewitsch: Mir gefällt diese Lektion der Menschlichkeit, die Angela
       Merkel der Welt zeigt, diese Bewährungsprobe, die die deutsche Nation dank
       ihrer Willensstärke besteht. Ich weiß, dass Merkel auch mit Schwierigkeiten
       zu kämpfen hat. Aber ich höre immer wieder, dass die Deutschen nach dem
       Zweiten Weltkrieg neue Menschen aus sich gemacht hätten. Zum Beispiel mein
       Vater: Er sagt, er dachte, er würde den Deutschen die Untaten niemals
       verzeihen, die er damals mitansehen musste. Aber nachdem sie das für die
       Flüchtlinge gemacht hätten, habe er nur noch Hochachtung vor diesen
       Menschen.
       
       Harms: Was mir auffällt und gefällt, ist, dass eine Frau aus Ostdeutschland
       an der Spitze Deutschlands versucht, die EU zu mehr Verantwortung für die
       Veränderungen in Osteuropa zu bringen und als europäische Staaten mehr
       Verantwortung für Menschen auf der Flucht übernehmen.
       
       Alexijewitsch: Und sie vertritt zwei Welten.
       
       Harms: Das ist gut, denn zwischen diesen Welten gibt es Brüche. Ich bin bis
       heute froh über das, was sich mit 1989 in Deutschland und der EU verändert
       hat. Und ich bin überzeugt, dass die Freiheit, die damals erlangt wurde,
       nicht an der Ostgrenze der EU endet.
       
       Warum ist Merkel kein „Homo sovieticus“, also Teil und Opfer des
       untergegangenen Sozialismus? 
       
       Alexijewitsch: Ach. Der Begriff Homo sovieticus ist ein abwertendes Wort
       aus der Zeit der Überheblichkeit, als der Westen und Amerika dachten, dass
       sie die Sowjetunion geschlagen haben. Es ist etwas komplizierter. Für mich
       sind es vorwiegend tragische Figuren, die in der alten Zeit zurückgeblieben
       sind. Nur wenige wie Merkel haben es geschafft, das Negative komplett aus
       sich herauszuquetschen und das Beste aus beiden Welten zu vereinen. Aber
       ein europäischer Mensch, also ein Homo europaeus, ist auch nicht der Gipfel
       der Vollendung.
       
       Harms: Sie schätzen Merkels Flüchtlingspolitik. Halten Sie auch Merkels
       Politik gegenüber Putin für richtig?
       
       Alexijewitsch: Es ist vernünftig, ihn sich nicht gleich zu einem Feind zu
       machen. Merkel versucht, Einfluss zu nehmen. Wenn Obama mit Putin spricht,
       hat man das Gefühl, Obama hat keine Ahnung, mit wem er da zu tun hat. Und
       wenn Merkel mit ihm spricht, habe ich das Gefühl, sie weiß, was läuft. Ihre
       Anwesenheit in der Vierer-Gruppe aus Deutschland, Frankreich, Russland und
       der Ukraine oder in der Gruppe der führenden Wirtschaftsnationen ist sehr
       wichtig, weil sie die Einzige ist, die über solches Wissen verfügt.
       
       Harms: Ich finde, es ist eine kluge Antwort auf Putin, zu sagen: Wir
       reagieren auf Krieg nicht mit Krieg. Aber wir setzen alles daran, dass die
       Reformen in der Ukraine erfolgreich sind. Und gegenüber Putin setzen wir
       auf Diplomatie und Sanktionen.
       
       Alexijewitsch: Ihr habt eure internen Verwerfungen, aber im
       postsowjetischen Raum hört man immer wieder die Frage: Und was meint die
       Merkel dazu? Alle Hoffnungen ruhen nur auf Merkel.
       
       Übersetzung: Alexej Khajretdinov
       
       26 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Unfried
       
       ## TAGS
       
   DIR Swetlana Alexijewitsch
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR Tschernobyl
   DIR Rebecca Harms
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR Tschernobyl
   DIR AKW
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
   DIR Sasa Stanisic
   DIR Swetlana Alexijewitsch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Protest 30 Jahre nach Tschernobyl: Leise ist das neue Laut
       
       Die Anti-Atom-Bewegung ist alt geworden und weniger zahlreich. Aber sie
       bewegt noch – etwa unsere Autorin, die beim Super-Gau noch nicht mal
       geboren war.
       
   DIR 30 Jahre Tschernobyl: Nukleare Start-ups
       
       Für die Fans erneuerbarer Energien gilt: Atom hat keine Zukunft. Aber viele
       Leute sehen das anders. Sie haben tiefe Taschen und mächtige Freunde.
       
   DIR 30 Jahre Tschernobyl: Leben in der Zone
       
       Dort, wo nach der Katastrophe evakuiert wurde, leben heute Wölfe, Pferde,
       Elche und Biber. Es gibt sogar Pläne für ein Biosphärenreservat.
       
   DIR Atomkritiker über AKW-Verlustgeschäft: „Ich habe Angst um die Konzerne“
       
       Vor 30 Jahren explodierte das AKW Tschernobyl. Das Ende der Atomindustrie
       war bereits zuvor besiegelt, sagt Mycle Schneider, Berater für nukleare
       Sicherheit.
       
   DIR 30 Jahre Tschernobyl: Eine Aufgabe für Generationen
       
       Die Region um Tschernobyl ist Sperrgebiet. Doch auf dem Gelände des
       ehemaligen AKW arbeiten 3.000 Menschen an der Zukunft.
       
   DIR Lebensmitteltester über Tschernobyl: „Nachts durften wir ran“
       
       Durch Glück kam Joachim Wernicke nach dem GAU an ein Strahlenmessgerät. Er
       testete Lebensmittel. Den Behörden traute niemand mehr.
       
   DIR Strahlenforschung nach dem Atomgau: „Vergiftete Wissenschaft“
       
       Die Zusammenarbeit ukrainischer und russischer Strahlenforscher ist
       gestört. Auch die archivierten Daten sind nicht mehr für alle verfügbar.
       
   DIR Atomkraftwerke in der Ukraine: Angst vor einem neuen Tschernobyl
       
       Die Ukraine will ihre AKWs künftig aus wirtschaftlichen Gründen kurzfristig
       hoch- und runterfahren. Das halten sogar die Betreiber für gefährlich.
       
   DIR Gesundheitsschäden nach Atomunfällen: Nuklearer Gedächtnisschwund
       
       Krankheiten und Erbschäden: Die Ärztevereinigung IPPNW warnt davor, die
       Gesundheitsgefahren der Atomkraft zu verdrängen.
       
   DIR Hörbücher von Alexijewitsch und Stanišić: Wo der Sinn des Lebens kulminiert
       
       Die Nobelpreisträgerin spricht mit den Lebenden und den Toten von
       Tschernobyl. Saša Stanišić beschreibt die Verlassenheit der ostdeutschen
       Provinz.
       
   DIR Nobelpreis für Literatur 2015: Aus dem Alltag des Homo sovieticus
       
       Sie ist die Archäologin der großen und kleinen Katastrophen im Kommunismus.
       Das sind die Themen der Schriftstellerin Alexijewitsch.