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       # taz.de -- Alle zu Hause: Das Corona-Fenster
       
       > Corona hält mich zu Hause und zwingt mich vor die Glotze. Dort hat mich
       > ein alter Krimi von Alfred Hitchcock auf eine tolle Idee gebracht.
       
   IMG Bild: Gab immer schon Orientierung: Fernrohr, in diesem Fall von Admiral John R. Yellicoe
       
       „Geh bloß nicht raus, Osman! Bleib zu Hause! Gib Covid keine Chance! Bleib
       gesund“, hämmert mir Frau Merkel mehrmals am Tag eindringlich ins Ohr. Aber
       den ganzen Tag den Fernseher anzustarren, ist auch nicht das Gesündeste.
       Man bekommt dadurch vielleicht kein Corona, aber dafür Kopfschmerzen,
       Rückenschmerzen, Arterienverkalkung, Herzinfarkt, Depression, Übergewicht,
       Diabetes, Prostata, Hämorrhoiden, alles fürchterliche Krankheiten, die man
       im Ernstfall liebend gern gegen Corona ohne Symptome tauschen würde.
       
       Dann bringt mich ausgerechnet die Glotze auf eine tolle Idee! Genauer
       gesagt, ein Film, den ich mir eben angeguckt habe. Noch genauer gesagt, ein
       Kriminalfilm von Alfred Hitchcock. „Das Fenster zum Hof“.
       
       Sofort bestellte ich mir übers Internet – ich soll ja nicht raus – das
       beste Fernrohr, dass es auf dem Markt gibt. Laut Hersteller kann ich damit
       sogar die grünen Männchen auf dem Mars beobachten. Das müsste reichen, um
       alle unsere Nachbarn im Umkreis von 500 Metern auszuspähen.
       
       Bereits am nächsten Tag baue ich das Monstergerät vor unserem
       Wohnzimmerfenster auf und hoffe auf einen kleinen nachbarschaftlichen Mord,
       um mir die Lockdown-Quarantäne spannender zu gestalten.
       
       Hinzu kommt, dass ein kleiner Mord bei den Nachbarn, einem eventuellen Mord
       bei uns zu Hause womöglich vorbeugen könnte. Nach einem Jahr Corona liegen
       nämlich die Nerven derart am Boden, dass selbst unser geniales Fernrohr zur
       Mordwaffe wird.
       
       Eminanim droht mir das schwere Ding auf den Kopf zu hauen, falls sie damit
       nicht sofort Hümeyranims Küche ausspionieren darf. Sie hätte schon länger
       den Verdacht, dass Hümeyranims Plätzchen auf keinen Fall selbstgemacht,
       sondern aufgewärmte Billigware sind. Jetzt endlich hätte sie die nötigen
       Beweise, diesen großen Schwindel auffliegen zu lassen! „Sie wird sich noch
       bitter wünschen, dass das Corona sie rechtzeitig weggerafft hätte“, zischt
       sie.
       
       Mein kommunistischer Sohn Mehmet hat im Bücherregal seines Kumpels Heiko
       seine vor Jahren verschollenen gesammelten Werke von Karl Marx entdeckt,
       von dem sein Kumpel seitdem völlig unverschämt behauptet, er hätte sie doch
       zurückgegeben.
       
       Meine kleine Tochter Hatice tobt die ganze Zeit rum, weil sie gesehen hat,
       wie ihre Freundin Selma in ihrem Kinderzimmer mit drei anderen Kindern
       rumtobt. „So eine doofe Zicke! Mir hat sie gesagt, sie darf wegen Corona
       mit keinem Kind mehr spielen. So eine Lügnerin! Ihre Puppe kriegt sie nicht
       mehr zurück“, schimpft sie und haut verärgert gegen das Fernrohr.
       
       Ich selber ziehe meinen Pyjama an, lege mich aufs Sofa, köpfe ein Bier und
       höre im Fernsehen der Kanzlerin zu. Alle anderen Männer im Umkreis von 500
       Metern machen nämlich genau dasselbe.
       
       25 Dec 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Osman Engin
       
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