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       # taz.de -- Alles digital wegen Corona: Zoom in die Vergangenheit
       
       > Durch Corona wurden Zeitzeug*innen-Erzählungen digital. Aber wie gut
       > lassen sich überhaupt Geschichten online erzählen? Eine Bestandsaufnahme.
       
   IMG Bild: So geht digitales Erzählen natürlich auch
       
       Berlin taz | Dass Monique Herrmann, Jahrgang 1944, gerade spricht, verraten
       nur ihre Lippenbewegungen – das Mikrofon ist noch aus. Nachdem der
       richtigen Button gefunden ist, setzt die Sächsin etwas aufgeregt noch
       einmal an: „Hallo, ich bin die Frau Herrmann aus Riesa und ich war 30 Jahre
       Kindergärtnerin.“ Als sie wenige Sätze später vom Berufsalltag in der DDR
       erzählt, scheint sie die Kamera schon vergessen zu haben: Mal wird ihre
       Stimmte lauter, dann untermalt sie ihre Erzählung mit einem energischen
       Kopfschütteln. Gelegentlich gestikuliert sie so stark, dass ihre Hände
       durch den Bildausschnitt huschen, obwohl dieser sie nur bis zu den
       Schultern zeigt.
       
       Zu Gast ist Monique Herrmann beim „Digitalen Erzählsalon“, eine Reihe, die
       diesen Sommer zum Thema „30 Jahre Deutsche Einheit“ stattfindet. Das Format
       der Erzählsalons gibt es schon seit 2001, geladen waren in dieser Zeit
       schon Seniorenheimbewohner*innen, Bergmänner oder jüdische Exilant*innen.
       Veranstaltet werden die Salons von [1][Katrin Rohnstock und ihrer Firma
       Rohnstock-Biografien], die aus den erzählten Geschichten Bücher schreibt.
       Neu ist, dass sich die sieben Gäste wegen der Coronapandemie nicht in den
       Berliner Firmenräumen treffen, sondern in einer Zoom-Konferenz. Zusätzlich
       wird die zweistündige Veranstaltung auf Youtube gestreamt.
       
       Noch bis Ende August kommen die Gäste zusammen, um über Konsum, Frauen oder
       Migration zu erzählen, auch Regionen wie die Lausitz oder Thüringer Wald
       sind Thema. An diesem Sonntagabend, an dem sich Frau Herrmann aus ihrer
       Wohnung dazuschaltet, soll es um die soziale Marktwirtschaft gehen. Detlef
       Janke, ein weiterer Redner, hat leider Pech: Sein Bild fällt aus, als er
       davon erzählt, wie er nach der Wende Unternehmensberater wurde. Komplett
       rund läuft es also noch nicht, das digitale Erzählen. 
       
       Weil die Pandemie persönliche Gesprächsrunden mit Zeitzeug*innen unmöglich
       macht, müssen die Formate neu gedacht werden. Die Erzählsalons wurden in
       nur sechs Wochen auf die Beine gestellt, andere Institutionen wie das
       Zeitzeugen-Portal oder die [2][KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen] befassen
       sich schon länger mit dem digitalen Erzählen. Aber wie gut lassen sich
       Geschichten überhaupt per Zoom erzählen? Und hat das Digitale auch
       Vorteile? 
       
       ## Der direkte Augenkontakt fehlt
       
       „Die kulturelle Anregung für die Erzählsalons kommt aus dem Jüdischen“,
       erzählt Katrin Rohnstock, Gründerin von Rohnstock-Biografien. Ein
       befreundeter Theologe habe ihr davon erzählt, wie sich Jüdinnen und Juden
       am Sabbat treffen und von ihrer Woche erzählen. „Das war genau das, wonach
       ich gesucht habe: ein gleichberechtigtes Erzählformat, das ohne Hierarchien
       funktioniert“, sagt die Literatur- und Sprachwissenschaftlerin. In ihren
       Erzählsalons würde darum niemand kommentieren, und es würden keine Fragen
       gestellt, die auf bestimmte Antworten abzielten. „Oral History“ heißt diese
       Methode der Geschichtswissenschaft, die auf dem Sprechenlassen der
       Zeitzeug*innen basiert.
       
       „Für die digitalen Erzählsalons haben einige abgesagt, weil sie Youtube
       misstrauen“, sagt Rohnstock. Ihre Erfahrungen aus den ersten zwei von
       insgesamt drei Monaten Projektlaufzeit: „Der direkte Augenkontakt fehlt,
       das macht manchen Gast unsicher. Da fehlt ein wichtiger Ankerpunkt.“
       
       Bei den früheren Erzählsalons hätten die Zeitzeug*innen bei Wein und
       Kerzenschein aus dem Bauch heraus erzählt. In der digitalen Form lese nun
       etwa ein Drittel die Geschichte nur ab. „Die Herausforderung ist, das
       authentische Erzählen zu fördern anstelle des perfekten“, erklärt
       Rohnstock. Inhaltlich aufeinander beziehen würden sich die Gäste aber auch
       trotz Zoom. 
       
       Der größte Verlust sei, dass die Gespräche danach fehlen: „Das ist immer
       wie eine kleine Explosion. Dann springen die Leute auf und wollen
       individuell anknüpfen und Ideen austauschen.“ In der digitalen Variante
       gehe das ja nicht. Zwar könnten die Gäste am Ende der Youtube-Übertragung
       noch weiter über Zoom sprechen, das sei aber weitaus weniger emotional.
       Auch die Chatfunktion nutze fast niemand.
       
       ## Viel technischer Aufwand
       
       Eine Herausforderung sei auch die technische Versorgung der Gäste: „Ein
       Teil unserer Zielgruppe hat gar keinen Computer oder wohnt in Gegenden mit
       schlechtem Internet“, erzählt Rohnstock. Unterstützung sei vom
       Wirtschaftsministerium gekommen, es habe Tablets mit SIM-Karten gesponsert.
       Was bleibe, sei der Aufwand, aus der Ferne zu erklären, wie die Gäste Zoom
       installieren und sich gut ausleuchten können.
       
       Auch Astrid Ley von der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen ist mit solchen
       technischen Problemen konfrontiert. Eigentlich sollte es im April eine
       Jahresfeier zur Befreiung des Konzentrationslagers geben, einige der über
       90-jährigen Zeitzeug*innen sollten dazu anreisen. Stattdessen wurde der
       Jahrestag ins Netz verlegt. „Ich habe mit einem in den USA lebenden
       Zeitzeugen versucht, ein Skype-Interview aufzunehmen. Die Qualität der
       Akustik war aufgrund von Internetproblemen aber so schlecht, das wir es
       nicht verwenden konnten“, sagt die stellvertretende Leiterin. „Viele hätten
       technische Hilfe von ihren Enkeln gebraucht, die das Video ordentlich
       aufnehmen. Aber die durften sie ja wegen der Pandemie nicht treffen“,
       erklärt Ley weiter. 
       
       Wie alle Gedenkstätten stünde man in Sachsenhausen vor dem Problem, dass
       die Zeitzeug*innen sukzessive sterben. „Wir müssen uns überlegen, wie wir
       unsere pädagogischen Programme umstellen. Beim Jahrestag 2015 habe ich 30
       Interviews mit Überlebenden aufgezeichnet. Die könnten wir zum Beispiel
       online veröffentlichen“, sagt Ley. Es gebe aber auch experimentelle
       Möglichkeiten, die Geschichten von Zeitzeug*inen zu erzählen: Die
       amerikanische Shoah Foundation stellte 2015 zum ersten Mal das Projekt
       „Dimensions in Testimony“ dauerhaft aus. Die Überlebenden erscheinen dort
       als Hologramm. 
       
       Insgesamt 22 Personen könne man Fragen wie: „Wo bist du geboren?“ oder „Was
       ist das Schlimmste, das du erlebt hast?“, stellen. Ein Programm errechne
       dann die passendste Antwort. Damit das funktioniert, haben die Interviewten
       etwa 2.000 Antworten zu ihrer Lebensgeschichte beantwortet.
       
       ## Auch pädagogisch sinnvoll?
       
       Anfang dieses Jahres, kurz vor dem Lockdown, konnte man die Installation
       auch im Technischen Museum Berlin besuchen. „Technisch ist das
       beeindruckend, dass es pädagogisch sinnvoll ist, wird von manchen
       Kolleg*innen bezweifelt“, sagt Leys von der Gedenkstätte Sachsenhausen. „Es
       sind immer noch die persönlichen Zeitzeugengespräche, die Jugendliche am
       meisten berühren.“ 
       
       Markus Würz von der [3][Stiftung Haus der Geschichte] kennt allerdings auch
       Vorzüge digital aufbereiteter Geschichten: „Zeitzeugen wird eine hohe
       Glaubwürdigkeit zugesprochen. Aber auch die machen mal Fehler und ziehen
       etwa Tage und Monate fälschlicherweise zusammen. Wenn man mit einem Video
       als Quelle arbeitet, fällt es leichter, misstrauisch zu sein und Aussagen
       zu prüfen“, sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter. Für Ausstellungen der
       Stiftung führt er jährlich 20 bis 50 Interviews mit Zeitzeug*innen, seit
       Corona mit ausreichend Abstand.
       
       Als Interviewer mache Würz eine Erfahrung wie Katrin Rohnstock in ihren
       Erzählsalons: Läuft eine Kamera, seien Zeitzeug*innen deutlich aufgeregter.
       „Mit zwei, drei Fragen kann man die Personen gut ins Gespräch bringen.
       Manchmal erzählen sie später dann sogar Geschichten, die nicht einmal ihre
       Frau oder Kinder kennen“, erzählt Würz, der ebenfalls die Methode des
       Sprechenlassens anwendet. Dass sich Zeitzeug*innen auf ähnliche Weise in
       einer Zoom-Konferenz öffnen, könne er sich nicht vorstellen. 
       
       Seit 2017 betreibt die Stiftung Haus der Geschichte das Zeitzeugen-Portal,
       ein großes Onlinearchiv mit über 1.000 Interviews, unterteilt in etwa 8.000
       Clips. Einmal auf dem Internetportal, erschließt sich einem der Vorteil des
       Digitalen auf Anhieb: Alle Clips sind nach Themen, Zeiträumen und Personen
       sortiert.
       
       ## Gibt nicht den einen Blick auf Geschichte
       
       „Die Idee ist die Multiperspektivität. Es gibt nicht den einen Blick auf
       die Geschichte“, so Würz. Zum Mauerfall finde man so euphorische, aber auch
       ängstliche Stimmen. Momentan arbeite die Stiftung zusammen mit dem
       Fraunhofer-Institut an einem Programm, das eine Transkription der Videos
       liefert. Dann könne man im Archiv auch nach einzelnen Begriffen oder
       Zitaten suchen. 
       
       Und da wäre noch ein Vorteil der digitalen Aufbereitung: Das Videoformat
       biete einen niedrigschwelligen Zugang zu Themen, über die man noch wenig
       Vorwissen hat. „Die Leute lassen die Erzählungen zu Hause nebenbei laufen
       und holen sich ihren Happen Geschichte“, sagt Würz. Diesen Vorteil sieht
       auch Rohnstock in dem digitalen Format ihrer Erzählsalons: „Früher hatten
       wir nur selten Publikum, jetzt kann man zu jeder Tages- und Nachtzeit
       online dabei sein.“ 
       
       Aber nicht nur die Reichweite der Zuhörer*innen sei größer – die Gäste
       könnten über das Internet aus entlegensten Orten zugeschaltet werden.
       „Veranstaltungen sind oft von Großstädter*innen geprägt. Dass wir jetzt
       Erfahrungen aus strukturschwachen Regionen hereinholen, ist eine enorme
       Bereicherung“, findet Rohnstock.
       
       Der Zuwachs an Erzähler*innen könne den Ausfall der vom Digitalformat
       abgeschreckten Gäste kompensieren. Und nicht nur das: Zu dem Erzählsalon
       zum Thema Frauen habe sich sogar eine ehemalige Olympiasiegerin
       zugeschaltet, die heute in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur lebe.
       „Das ist ein Vorteil des Digitalen“, freut sich Rohnstock, „den würde ich
       gerne übernehmen, wenn die analogen Erzählsalons wieder möglich sind.“
       
       2 Aug 2020
       
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