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       # taz.de -- Anerkennung indigener Rechte in Chile: „Schlusslichter“ in Lateinamerika
       
       > In Chile gibt es einen historischen Landstreit zwischen dem Staat, den
       > Mapuche und Forstunternehmen. Und sie bleibt bis heute noch ungelöst.
       
   IMG Bild: Der Machi Celestino Cordova kommt im Temuco-Gefängnis an, um eine Mapuche-Zeremonie durchzuführen, Juli 2022
       
       Seit über 500 Tagen sind die Streitkräfte im Süden Chiles im Einsatz, im
       Wallmapu, dem angestammten Territorium der Mapuche, das sich über die
       Region Araucanía sowie zwei Provinzen der Nachbarregion Bío Bío erstreckt.
       Das liegt daran, dass Chiles Parlament eine erneute Verlängerung des
       Ausnahmezustands in der sogenannten Makrozone Süd beschlossen hat, laut
       Parlamentswebseite „wegen der Gewalttaten im ländlichen Raum“.
       
       In dieser Zone gibt es [1][einen historischen Landstreit] zwischen dem
       chilenischen Staat, einigen Gemeinschaften der Mapuche und der
       Forstindustrie, die seit der Militärdiktatur (1973–1990) Ländereien
       ausbeutet, die von den Mapuche als ihr angestammtes Territorium angesehen
       werden. Vor diesem Hintergrund nehmen Forderungen nach Land und
       Landbesetzungen seitens der indigenen Gemeinschaften zu. Das ist ein
       entscheidender Teil des Konflikts, den der Staat bis heute nicht gelöst
       hat. Dazu kommen Brandanschläge auf Fahrzeuge und Ländereien der
       Forstindustrie sowie die Inhaftierung von Mapuche aus politischen Gründen.
       Im Gefängnis der südchilenischen Stadt Angol sind sie bereits seit 100
       Tagen [2][im Hungerstreik] und fordern die Anerkennung ihrer „politischen,
       territorialen, kulturellen und spirituellen Rechte“.
       
       Der Ausnahmezustand, gleichbedeutend mit einer Militarisierung des
       Mapuche-Gebiets, wurde erstmalig im Oktober 2021 von der damaligen
       rechtsgerichteten Regierung von Sebastián Piñera verhängt. Sieben Monate
       später erklärte die derzeitige Mitte-links-Regierung von Präsident Gabriel
       Boric einen „begrenzten“ Ausnahmezustand in der Zone, [3][obwohl Boric sich
       während seines Wahlkampfs noch gegen diese Maßnahme ausgesprochen hatte].
       Die Militarisierung und die auf Sicherheit und Repression ausgerichtete
       Politik haben das Misstrauen verschiedener Mapuche-Gemeinschaften
       verstärkt, denn aus ihrer Sicht zielen diese Maßnahmen nicht auf die
       Behebung der politischen Ursache des Konflikts, nämlich den vom
       chilenischen Staat seit dem 19. Jahrhundert begangenen Raub am
       Mapuche-Territorium. Der Staat bediente sich Mitteln wie Versteigerungen,
       notariellen Tricks und der Umsiedlung von Mapuche auf kleine Parzellen, wie
       der Forscher Martín Correa im Interview mit der chilenischen Zeitung
       Interferencia erklärt.
       
       ## Die Folgen der Pinochet-Diktatur
       
       Die chilenische Agrarreform im 20. Jahrhundert hatte zum Ziel, den
       Großgrundbesitz zu überwinden und die prekären Lebensbedingungen der Bauern
       zu verbessern. Im Zuge der Reform wurden Landfragen zu einem wichtigen
       Eckpfeiler staatlicher Politik, aber auch zum Gegenstand der
       Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Sektoren der Gesellschaft.
       Während der Regierungszeit des Wahlbündnisses aus linken Parteien, der
       Unidad Popular, bewirkte der Präsident Salvador Allende wesentliche
       Veränderungen durch das Gesetz Ley Indígena Nr. 17.729, das 1972 zum ersten
       Mal die ethnische Identität berücksichtigte.
       
       Laut dem mapuche-chilenischen Journalisten Pedro Cayuqueo hat die
       Allende-Regierung den Mapuche-Gemeinschaften schätzungsweise 152.416 Hektar
       Land übergeben und damit ein historischer Prozess der Wiedergutmachung
       begonnen. Nach dem Putsch vom 11. September 1973 wurden die Gebiete jedoch
       wieder ihren Vorbesitzern übergeben. Während der Diktatur, im Jahr 1979,
       wurde durch das Dekret Nr. 2.568 die Aufteilung der gemeinschaftlichen
       Landtitel vorangetrieben und das Volk der Mapuche wurde um große
       Landflächen gebracht, was erneut Armut, Repression und Ausplünderung
       bedeutete. Unter Augusto Pinochet wurden Mapuche ermordet, sie verschwanden
       oder wurden ins Exil getrieben und verfolgt – darüber hinaus wurde ihr
       gemeinschaftliches Zusammenleben durch die erzwungene Aufteilung ihres
       Landes größtenteils zerstört.
       
       ## Großes Versprechen nach der Militärdiktatur
       
       Während das Land nach der von Pinochet angeführten zivilmilitärischen
       Diktatur zur Demokratie zurückkehrte, kamen 1989 von dem damaligen
       Präsidentschaftskandidaten und später Präsidenten Patricio Aylwin Azócar
       Versprechungen. „Viele von uns hatten Hoffnung, aber das Wichtigste war,
       den Diktator loszuwerden“, erinnert sich der Lonko (Autoritätsperson der
       Mapuche) José Painaqueo Paillán. In jenem Jahr verpflichtete sich Aylwin
       gegenüber indigenen Organisationen der Mapuche, Huilliche, Aymara und Rapa
       Nui in der sogenannten Vereinbarung von Nueva Imperial zur
       „verfassungsmäßigen Anerkennung der indigenen Völker“ – ein Versprechen,
       das er nie einlöste. Zudem sagte er die Ratifizierung des Übereinkommens
       Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation zu, was erst 2008 umgesetzt
       wurde. Der einzige tatsächliche Fortschritt unter Aylwin war die
       Verabschiedung der Ley Indígena Nr. 19.253, des Gesetzes für „Schutz,
       Förderung und Entwicklung der Indigenen“, welches 1993 die Gründung der
       Nationalen Gesellschaft für indigene Entwicklung (Conadi) nach sich zog.
       
       „Was die Anerkennung indigener Rechte angeht, gehört Chile zu den
       Schlusslichtern in Lateinamerika“, schreibt dazu die Forscherin Verónica
       Figueroa Huencho bei dem Onlinemedium Ciper. 2021 wurde eine neue
       Verfassung ausgearbeitet, die die seit 1980 geltende aus Diktaturzeiten
       ersetzen sollte. Dabei wurde auch über Plurinationalität diskutiert, eine
       der Hauptforderungen der Großdemonstrationen der sozialen Revolte im
       Oktober 2019. Diese Mobilisierung ermöglichte es, eine Mapuche-Frau, Elisa
       Loncón, zum ersten Mal als Leiterin der verfassunggebenden Versammlung zu
       wählen. Der schließlich beschlossene Verfassungstext wurde jedoch in einem
       Plebiszit abgelehnt. Derzeit läuft ein neuer Prozess zur Ausarbeitung einer
       Verfassung, der von der extremen Rechten dominiert wird.
       
       Aus dem [4][Spanischen]: Martin Schäfer
       
       Paula Huenchumil ist Journalistin der digitalen Zeitung Interferencia. Sie
       ist Mapuche.
       
       10 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Paula Huenchumil
       
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