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       # taz.de -- Ankerzentren in Bayern: Um vier Uhr früh wird abgeschoben
       
       > Die bayerischen Ankerzentren sind ein Ort der Isolation und der Angst.
       > Die Stimmung kann eskalieren – wie jetzt in Donauwörth.
       
   IMG Bild: Ankerzentrum in Manching: kritischen Organisationen wird kein Zutritt gewährt
       
       Ingolstadt/Berlin taz | Die Nächte sind immer das Schlimmste für Farhad S.
       und die sieben Mitbewohner, mit denen er in der Containeranlage in
       Ingolstadt das Zimmer teilt. „Bis drei Uhr oder auch bis fünf liegen wir
       wach, können nicht schlafen, flüstern miteinander“, erzählt der 23-jährige
       Mann aus Afghanistan auf Englisch. „Wir sind alle depressiv, wir haben alle
       psychischen Stress und denken darüber nach, wie es mit uns weitergeht.“
       
       So geht das schon seit über einem Jahr, im September 2017 ist S. als
       Asylbewerber nach Deutschland gekommen. Er habe sich in Kabul geweigert,
       Schwarzgeld zu waschen, und sei deswegen bedroht worden. Nun sitzt er in
       der Sammelunterkunft, die bis Ende Juli noch „Transitzentrum“ hieß, seit
       August trägt sie auf Geheiß der Bayerischen Staatsregierung den Titel
       „Ankerzentrum“. Nachts kommt oft die Polizei – „immer um vier Uhr“, sagt S.
       Dann stehe eine Abschiebung an, er habe schon viele miterlebt.
       
       Seit August wird jeder neu ankommende Flüchtling in Bayern in einem der
       sieben Ankerzentren im Freistaat einquartiert. Dort muss er bleiben, bis
       über seinen Fall entschieden ist. „Anker“ steht für „Ankunft, Entscheidung
       und Rückführung“. Möglichst schnell, effektiv und ohne unnötige Bürokratie
       soll das gehen, in den Zentren sitzen die Entscheidungsträger mit
       Außenstellen direkt vor Ort – das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
       (Bamf) sowie das Verwaltungsgericht, die Rückkehrberatung und die
       Arbeitsagentur. Alles soll in einem Rutsch erledigt werden.
       
       Bayern setzt damit um, was Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) [1][für
       ganz Deutschland vorschwebt.] Vorgesehen ist eine Verweildauer von maximal
       sechs, bei bestimmten Gruppen auch bis zu 24 Monaten. Wie lange die
       Flüchtlinge aber tatsächlich dort ausharren, darüber gibt es bisher keine
       Auskunft vom bayerischen Innenministerium oder von der Regierung von
       Oberbayern.
       
       Auch in Sachsen gibt es seit Anfang August ein Ankerzentrum, seit Ende
       September eines im saarländischen Lebach. Ende Oktober besuchte Seehofer
       die Einrichtung und zeigte sich zufrieden: „Nur vier Wochen nach der
       Inbetriebnahme dieser Ankereinrichtung bin ich von der guten und
       reibungslosen Zusammenarbeit der beteiligten Stellen beeindruckt“, sagte
       er.
       
       ## Wer reindarf bleibt offen
       
       In der Ingolstädter Marie-Curie-Straße 13, einer von drei Außenstellen des
       Ankerzentrums Manching, berichtet Farhad S. derweil vom Alltag in der
       Unterkunft: Er ist alleine eingereist und volljährig, sein Asylantrag wurde
       abgelehnt. Seine Angehörigen hingegen – Mutter, Vater und drei jüngere
       Brüder – haben einen Schutzstatus erhalten und leben in München. Besuchen
       darf S. sie nicht, weil er wegen der im Ankerzentrum herrschenden
       Residenzpflicht den Bezirk Ingolstadt nicht verlassen darf. Und sie dürfen
       nicht zu ihm ins „Camp“, wie die Flüchtlinge die Unterkunft bezeichnen.
       Besuch von außerhalb ist verboten, rund um die Uhr bewachen
       Sicherheitsleute das hoch eingezäunte Areal. S. könnte die Familie nur
       außerhalb in Ingolstadt treffen.
       
       Ein Gefängnis ist das Camp zwar nicht, aber es ist ein abgesperrter Ort:
       Außer den Behörden und anderen Berechtigten wie etwa der
       Caritas-Sozialberatung darf niemand hinein. Verwandte oder auch Freunde der
       Kinder in der Unterkunft werden abgewiesen. Der Bayerische Flüchtlingsrat
       habe offiziell Hausverbot, sagt Jana Weidhaase von der Organisation. „In
       den letzten Monaten hat sich das Beratungsangebot für die Geflüchteten in
       den Unterkünften zwar erweitert, aber kritischen Organisationen wird der
       Zutritt weiter verwehrt.“
       
       Eine Sprecherin der Regierung Oberbayerns bestreitet ein „generelles
       Hausverbot“ und betont, grundsätzlich werde „jeder einzelne Zutrittsantrag
       geprüft“. Derzeit liege „keine offene Anfrage des Bayerischen
       Flüchtlingsrats“ vor. Auskunft darüber, welche Institution wo reindarf,
       will die Sprecherin nicht geben – dies sei nicht aussagekräftig, da der
       aktuelle Stand „sich wöchentlich ändern kann“.
       
       ## „Schlafen, essen, warten“
       
       Auch Medien erhalten keinen Zutritt. Das Innere des Ankerzentrums bleibt
       für die Öffentlichkeit verschlossen. Im Mai hatte die Regierung von
       Oberbayern bisher einmalig einen Termin festgelegt, an dem Journalist*innen
       als große Gruppe, geführt und unter Aufsicht, das Ankerzentrum Manching
       anschauen durften. Die Bewohner*innen protestierten, um auf ihre Lage
       aufmerksam zu machen.
       
       Die Stimmung in den Zentren kann eskalieren. So endete beispielsweise eine
       Essensausgabe im Ankerzentrum in Donauwörth jetzt in einer Randale von 50
       Bewohnern. Ein Mann hatte sich beschwert, weil er keine zusätzlichen
       Semmeln bekommen hatte, teilte die Polizei am Sonntag mit. Daraufhin
       solidarisierten sich mehrere Bewohner mit dem Mann. Einer von ihnen soll
       den Angaben zufolge dabei mit einer Bierbank gegen eine Scheibe des
       Speisesaals geschlagen und das Glas beschädigt haben. Polizisten rückten an
       und beruhigten die Situation. Verletzte gab es nicht.
       
       Bayernweit gibt es derzeit dem bayerischen Innenministerium zufolge 14.000
       Plätze in den Ankerzentren, gegenwärtig sind 9.000 belegt. „Schlafen,
       essen, warten“ – so beschreibt S. das Leben im Ankerzentrum.
       
       Die Menschen erhalten vor allem Sachleistungen, also etwa ein Bett, dreimal
       am Tag eine Mahlzeit und Tickets für den öffentlichen Nahverkehr. Nur was
       sich durch Sachleistungen nicht regeln lässt, wird durch Geldleistungen
       abgedeckt. Die Bewohner erhalten ein Taschengeld von 90 Euro im Monat und
       jedes Vierteljahr 100 Euro für Bekleidung.
       
       ## „Menschenunwürdig“
       
       Der Bayerische Flüchtlingsrat lehnt Ankerzentren ab, er bezeichnet sie als
       „Abschiebelager“. Die Lebensbedingungen seien „menschenunwürdig“, heißt es
       in einer Stellungnahme. Beklagt werden „hohe Zäune, geschlossene Tore,
       Überwachung, Wohnen auf engstem Raum“. Vor allem gehe es um Abschottung.
       
       Auch Pro Asyl kritisiert die Ankerzentren scharf – sie behinderten nicht
       nur jede Integration, zu befürchten sei auch eine Entrechtung der Menschen.
       „Die ersten Erfahrungen mit den Ankerzentren bestätigen unsere
       Befürchtung“, sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer der NGO. Die
       Anerkennungsquote für Schutzsuchende aus Afghanistan etwa liege in Manching
       bei rund 27 Prozent, also weit unter dem Bundesdurchschnitt von etwa 49
       Prozent – das geht aus einer Kleinen Anfrage der Linkspartei an die
       Bundesregierung hervor. Die Ursachen dafür sieht Burkhardt unter anderem in
       der Isolation in den Zentren. Wenn Ehrenamtliche keinen Zugang hätten,
       fehle es an unabhängiger Beratung.
       
       Im Koalitionsvertrag heißt es: „Eine unabhängige und flächendeckende
       Asylverfahrensberatung ist zu gewährleisten.“ In den bayerischen
       Ankerzentren wird diese durch Bamf-Mitarbeiter*innen durchgeführt.
       „Parallel existieren auch weiterhin Beratungsangebote zum Asylverfahren
       durch Wohlfahrtsverbände“, teilt das Bamf auf Nachfrage mit.
       
       Da Vertreter*innen dieser Verbände das Ankerzentrum unter Umständen aber
       gar nicht betreten dürfen, ist der Zugang zur Beratung erschwert.
       Schutzsuchende müssen die Einrichtung verlassen und sich aktiv Hilfe
       suchen. Einige Aktivist*innen fahren in unregelmäßigen Abständen mit einem
       Bus zu den Unterkünften in Manching und Ingolstadt und bieten dort mit
       Unterstützung von Pro Asyl und dem Bayerischen Flüchtlingsrat ihre
       Unterstützung an. Dieser ist auch telefonisch erreichbar.
       
       Unabhängig sei die Beratung durch das Bamf nicht, kritisiert Burkhardt. Vor
       allem fehle es an Informationen, wie man gegen negative Bescheide vorgehen
       und an welche Anwält*innen man sich dafür wenden könne. „Es ist völlig
       abwegig, dass ein Bamf-Berater den Flüchtling so beraten kann, dass er
       gegen den eigenen Arbeitgeber vor Gericht zieht“, sagt er.
       
       ## Anwaltliche Vertretung oft nicht möglich
       
       Die Bundesrechtsanwaltskammer kritisierte im Oktober, auch die Möglichkeit,
       unabhängige rechtliche Beratung in Anspruch zu nehmen, sei nicht gesichert.
       In den Ankerzentren sei vorgesehen, dass die persönliche Anhörung direkt
       bei Stellung des Asylantrags durchgeführt werde. Die Einrichtungen seien
       aber meist abseits der Städte gelegen, potenzielle Anwält*innen weit weg.
       „Dies wird zur Folge haben, dass Asylantragsteller während der persönlichen
       Anhörung überwiegend nicht anwaltlich vertreten sein werden“, heißt es in
       der Stellungnahme. Einige Münchner Rechtsanwälte bieten immer wieder in
       Ingolstadt kostenlos ihre Hilfe an.
       
       Doch auch dorthin müssen die Geflüchteten erst einmal kommen. Die
       Einrichtung in der Marie-Curie-Straße etwa liegt mitten in einem
       Ingolstädter Gewerbegebiet, in der Nähe ist die riesige Erdölraffinerie zu
       sehen. Jede Stunde kommt ein Bus, die Haltestelle heißt
       „Existenzgründerzentrum“.
       
       Im Westen Ingolstadts liegt das Heim an der Neuburger Straße, das ebenfalls
       an Manching angeschlossen ist. Dort lebt Dimitry S. aus der Ukraine derzeit
       mit seiner Frau und den zwei Töchtern – die jüngere ist vier Monate alt.
       Seit mehr als anderthalb Jahren sind sie hier. In Kiew hat S., so erzählt
       er, als Jurist für Oppositionsparteien gearbeitet, um die grassierende
       Korruption aufzudecken. Dann steckte ihm jemand, dass er bald verhaftet
       würde.
       
       Die Familie hat zwei Zimmer, aber keine Kochgelegenheit. Zu bestimmten
       Zeiten wird Verpflegung ausgegeben. „Es gibt kein Privatleben“, sagt der
       32-Jährige, die Zimmertüren könnten nicht abgeschlossen werden. Sie haben
       deutsche Freunde mit Kindern in Ingolstadt. Besuchen können die sie aber
       nicht. „Wir wollen uns integrieren“, sagt Dimitry S., „aber es wird uns
       schwergemacht.“
       
       25 Nov 2018
       
       ## LINKS
       
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