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       # taz.de -- Anti-Regierungsproteste in Russland: „Hexenprozess“ im Namen Gottes
       
       > Eine Aktion gegen Premier Putin in der Christi-Erlöser-Kathedrale bringt
       > drei Mitgliedern der Punkband Pussy Riot U-Haft ein. Im April stehen die
       > Feministinnen vor Gericht.
       
   IMG Bild: Mitglieder der feministischen Punk-Band Pussy Riot bei einem Interviewtermin im Februar.
       
       MOSKAU taz | „Mutter Gottes, werde Feministin“, kreischten die Frauen und
       wandten sich im selben Atemzug mit noch einer Bitte an die Jungfrau Maria:
       „Heilige Mutter, vertreibe uns den Putin.“ Die Jungfrau erhörte die
       Fürbitte nicht, dafür vernahm sie aber ganz Russland mithilfe von Youtube.
       
       Pussy Riots nennen sich die Frauen der feministischen Punkband, die sich
       mit dem Stoßgebet kurz vor den russischen Präsidentenwahlen im Heiligtum
       der russisch-orthodoxen Kirche, der Moskauer Christi-Erlöser-Kathedrale,
       Luft verschafften. Fünf Minuten dauerte ihr Auftritt in gehäkelten
       Wollmasken und schrillen Netzstrümpfen, bis die himmlischen Wächter den
       Altarraum von ihnen gesäubert hatten. Es war nicht ihr erster provokanter
       Auftritt. Zuvor zelebrierten sie auf dem Roten Platz vor der
       Basiliuskathedrale die Austreibung Wladimir Putins, des Symbols der
       nachhaltigen Macho-Gesellschaft.
       
       Drei der Frauen sitzen in Untersuchungshaft. Die Causa Pussy Riot ist zum
       Politikum geworden. Ende April soll ein Gericht über das Schicksal der
       Delinquentinnen entscheiden. Zurzeit wird ihnen „Rowdytum“ zur Last gelegt.
       Die Höchststrafe beträgt sieben Jahre. Ob der Tatbestand des „Extremismus“
       erfüllt ist, die Band „interkonfessionellen Hass“ schürte und auch dafür
       bestraft werden könnte, prüfen Juristen noch.
       
       Die Ideologen der orthodoxen Kirche würden an den aufmüpfigen Frauen am
       liebsten ein Exempel statuieren. Dass sie kleine Kinder haben, bewahrte die
       Mütter nicht vor der U-Haft. Die orthodoxe Gemeinde fordert Vergeltung.
       Verständnisvollere Gläubige, die die Kirche baten, den Sünderinnen zu
       vergeben, sind eine Minderheit. Der Patriarch der orthodoxen Kirche,
       Kirill, war erschüttert, dass Gläubige die Punkerinnen in Schutz nahmen.
       Die Band hätte die Kirche entweiht, sagte der Oberhirte: „Solche Menschen
       glauben nicht an die Macht des Gebets, sie glauben an die Macht der
       Propaganda, der Lügen und Verleumdungen, des Internets und der Massenmedien
       …“
       
       ## Eine Frage von Verrat und Loyalität
       
       Das Gleiche hätte der Kirchenvater genauso gut der politischen Führung
       vorhalten können. Doch Kirill ist ein Mann des Systems, für den auch die
       Trennung von Staat und Kirche ein bedauerlicher Sündenfall ist. Gemäßigte
       Stimmen haben da keine Chance, wo dunkle Kräfte, derer sich der Teufel
       bemächtigt hätte, ihr Unwesen treiben, verlautete aus dem Patriarchat.
       
       Die Kirche stilisiert den Vorfall zu einer Frage von Verrat und Loyalität.
       Dabei geht es nicht um Glauben, sondern um Russland und dessen
       Herrschaftssystem. Wer es wagt, die Orthodoxie zu kritisieren, stellt sich
       gegen Russland. Es ist der gleiche Reflex, den Wladimir Putin im Wahlkampf
       ausbeutete. Nach dem Motto: Wer gegen mich ist, verrät auch Russland. Die
       Beschwörung von Feinden soll das System am Laufen halten.
       
       Diese Spielart der russischen Theokratie wird seit den Massenprotesten
       jedoch hinterfragt. Vor allem junge unabhängige Künstler wie die
       Artperformer der Gruppe „Woina“, zu der auch die festgenommene Punkerin
       Nadeschda Tolokonnikowa gehört, wehren sich gegen den Schulterschluss von
       Kreml und Kirche. Das war die Botschaft des vermeintlich blasphemischen
       Aktes. Dass einer politischen Geste derart repressive Maßnahmen folgen,
       hätte sie nicht erwartet, erklärte die Gruppe Pussy Riot schriftlich. Man
       wolle aber weiter Protestgrüße an das Macho-Regime Putins schicken.
       
       Die Orthodoxie kannte im Unterschied zur katholischen Kirche im ausgehenden
       Mittelalter keine Hexenprozesse. Jetzt holt die Kirche das nach.
       „Wahrscheinlich verdienen die Frauen es, auf dem Scheiterhaufen verbrannt
       zu werden“, meinte der rechtsradikale Ideologe Alexander Dugin in der
       kremlnahen Komsomolskaja Prawda.
       
       26 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
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