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       # taz.de -- Antisemitismus in der Kultur: Hineinrufen ins brüllende Nichts
       
       > Zwei neue Bücher können das Bewusstsein für jüdische Positionen stärken.
       > Sie liefern instruktive Beiträge jenseits der aufgeheizten
       > Debattenspirale.
       
   IMG Bild: Kippot verteilen im Berliner Mauerpark: Ziel ist es, über Antisemitismus ins Gespräch zu kommen
       
       Kunst entsteht in und aus Gesellschaften, nimmt Entwicklungen in sich auf,
       wirft sie verändert zurück. Es ist eine komplizierte Beziehung. Deshalb
       eignet sie sich so gut, um Fragen in Räume des sozialen Austauschs zu
       rufen. Wenn es darum geht, dass Kunst Antisemitismus widerspiegelt, scheint
       eine inhaltliche Diskussion aber oft nicht möglich.
       
       Diesen Eindruck schildert Stella Leder in der Einleitung des von ihr
       herausgegebenen Sammelbands „Über jeden Verdacht erhaben? Antisemitismus in
       Kunst und Kultur“. Statt Hinweise ernst zu nehmen und darüber zu
       diskutieren, verschiebe sich die Aufmerksamkeit weg vom angesprochenen
       Antisemitismus, hin zur Abwehr des Vorwurfs.
       
       „Wer den Antisemitismusvorwurf äußert, gilt als Aggressor*in; die Person,
       die sich mit ihm konfrontiert sieht, als Opfer“, beschreibt Leder. „Dieser
       Abwehrreflex verhindert inhaltliche Auseinandersetzungen mit
       Antisemitismus.“
       
       Der Band beschäftige sich mit der „Kultur der Mehrheit“, wie Leder,
       Mitgründerin des Instituts für Neue Soziale Plastik und selbst Autorin,
       schreibt. „Wie wirkt Antisemitismus in Zeitungen, Theatern, Filmen und in
       der Literatur? Wie steht es um die Bearbeitung von Antisemitismus in Kunst
       und (Hoch-)Kultur?“ Pop- und Clubkultur etwa bleiben dabei außen vor.
       
       ## Formen des Antisemitismus
       
       Trotzdem stecken die 28 Beitragenden ein weites Feld ab. Auch durch
       Gedichte wie von Max Czollek oder Ramona Ambs, die eine künstlerische
       Auseinandersetzung mit Antisemitismus zeigen. Dazu gehören teilweise für
       den Band entstandene, teilweise bereits erschienene literarische oder
       essayistische Texte, unter anderem von den Schriftsteller*innen Lena
       Gorelik, [1][Mirna Funk] und Dmitrij Kapitelman.
       
       Sie schildern aus jüdischer Perspektive Auswirkungen von mal offenem, mal
       subversivem, aber nicht weniger gewaltförmigem Antisemitismus und wie sie
       damit umgehen.
       
       Dazu kommen analytische Texte wie von Katharina Stengel, die beschreibt,
       wie mit Kunstwerken umgegangen wird, die während des Nationalsozialismus
       jüdischen Menschen geraubt wurden. Der Politikwissenschaftler Samuel
       Salzborn schreibt über die Abwehr der Erinnerung an die Shoah im
       postnationalsozialistischen deutschsprachigen Film.
       
       Weitere [2][instruktive Beiträge blicken auf eine der aktuell wohl
       prägendsten Theorien für den Kulturbereich, den Postkolonialismus.] Dabei
       problematisieren die Autor*innen die von manchen ihrer
       Vertreter*innen eingenommene antizionistische Position in der
       Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur, die anschlussfähig für
       antijüdische Motive ist.
       
       ## Nicht mehr überhört werden
       
       Es gibt keine ordnenden Kapitel, wodurch die Beiträge scheinbar
       verbindungslos hintereinander stehen. Auch liefert der Band keine
       Definitionen von Antisemitismus.
       
       Stattdessen zeigen die Texte unterschiedliche Aspekte der
       Vielgestaltigkeit: von christlichem Antijudaismus, der heute noch in
       Kirchen in Bildern zu sehen ist, über den Antisemitismus, der als
       Kernideologie des Nationalsozialismus zur Shoah führte, bis zur
       Schuldabwehr in den postnationalsozialistischen Staaten BRD und DDR und
       antisemitischen Verschwörungserzählungen im Jahr 2021.
       
       Die Texte werfen damit Schlaglichter in den Halbschatten einer offen
       bleibenden Auseinandersetzung. Die Journalistin Debora Antmann schreibt in
       ihrem Beitrag: „Ich werde nicht aufhören, in das brüllende Nichts zu rufen,
       bis der Kanon meiner widerhallenden Stimme zwischen den Trümmern so laut
       ist, dass ihr mich nicht mehr überhören könnt. Dass ihr UNS nicht mehr
       überhören könnt.“
       
       ## Norm der Perspektive
       
       Jüdischen Stimmen zuhören – das fordern auch Judith Coffey und Vivien
       Laumann. In ihrem Buch „Gojnormativität. Warum wir anders über
       Antisemitismus sprechen müssen“ beschreiben sie ihre Beobachtung, dass
       jüdische Positionen ausgeblendet werden, nicht nur wenn es um
       Antisemitismus geht. Sie sprechen dabei speziell über linke,
       intersektionale, queerfeministische Räume und Diskurse, in denen sie selbst
       Akteurinnen sind.
       
       Die prägende und damit als Norm gesetzte Perspektive sei eine
       nichtjüdische. Das bezeichnen Coffey und Laumann als Gojnormativität.
       „Indem nicht die (jüdische) ‚Abweichung‘, sondern die (gojische) ‚Norm‘ in
       den Analysefokus gerückt wird, kann Antisemitismus als Strukturprinzip
       erfasst werden, das weit über die aktive und absichtliche Feindschaft gegen
       Juden_Jüdinnen hinausgeht“, schreiben die Autorinnen und rücken damit in
       den Blick, was häufig ausgeblendet wird.
       
       Es sind oft nur die besonders expliziten Beispiele von Antisemitismus, die
       schockieren. Allerdings wirkt die Ideologie viel häufiger dezent,
       subversiv. Auch in Kunst und Kultur.
       
       Beide Veröffentlichungen, „Über jeden Verdacht erhaben? Antisemitismus in
       Kunst und Kultur“ und „Gojnormativität. Warum wir anders über
       Antisemitismus sprechen müssen“ können das Bewusstsein für jüdische
       Positionen stärken. Sie rücken damit ins Zentrum, was wichtiger ist als
       inhaltsleere Oberflächenkonflikte, die sich in Schreispiralen zwischen den
       instrumentalisierten Wörtern Antisemitismus und Antisemitismusvorwurf
       aufheizen.
       
       4 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Philipp Weichenrieder
       
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