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       # taz.de -- Antisemitismusbeauftragter über Proteste: „Wir haben eine extreme Eskalation“
       
       > Judenhass ist ein breites gesellschaftliches Problem, sagt Samuel
       > Salzborn. Das sei historisch begründet. Weniger als ein Prozent waren zur
       > NS-Zeit oppositionell.
       
   IMG Bild: Zeichen der Solidarität: Teilnehmer:innen der Demonstration „Nie wieder ist jetzt“ vom 10.12.2023
       
       taz: Herr Salzborn, wie sicher können Jüdinnen und Juden zurzeit in Berlin
       leben? 
       
       Samuel Salzborn: Seit dem barbarischen antisemitischen Terroranschlag der
       Hamas vom 7. Oktober ist die Sicherheitslage für Jüdinnen und Juden und für
       Israelis in Berlin extrem angespannt. Wir hatten eine Reihe von extrem
       aggressiven antisemitischen Versammlungslagen und Kundgebungen,
       Markierungen von Wohnhäusern mit antisemitischen Symbolen, einen versuchten
       Brandanschlag auf die Synagoge in der Brunnenstraße, zuletzt mehrere
       Zerstörungen von Chanukka-Leuchtern. Seitdem geht das Ganze auch mehr in
       die Breite, etwa an den Hochschulen, wo Jüdinnen und Juden angefeindet
       werden.
       
       Was heißt das im Alltag? 
       
       Das wirkt sich massiv auf das subjektive Sicherheitsgefühl aus, weil man
       nie genau weiß, an welchem Ort in Berlin was passieren kann. Viele leben
       mit der großen, nachvollziehbaren und berechtigten Furcht, dass sie spontan
       angegriffen werden könnten, wenn sie als Jüdinnen und Juden zu erkennen
       sind, etwa durch eine Kette mit dem Davidstern.
       
       Braucht es mehr Sicherheitsmaßnahmen? 
       
       Das Land macht seit dem 7. Oktober bei den Sicherheitsmaßnahmen vor
       Synagogen und vor jüdischen Einrichtungen sehr, sehr viel. Aber das große
       Risiko ist der Alltag: Situationen und Orte, in denen man eben keinen
       vollumfänglichen Schutz herstellen kann, so bitter das ist.
       
       Raten Sie als Antisemitismusbeauftragter jetzt dazu, sich nicht als jüdisch
       oder israelisch erkennen zu geben? 
       
       Es ist nicht an mir, jemandem konkrete Vorschläge fürs Leben zu machen.
       Aber ich höre von vielen Stellen, dass Menschen solche individuellen
       Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und dass sie in einigen Bezirken – wie etwa
       Neukölln – noch mal vorsichtiger sind.
       
       Berlin hat seit 2019 ein Landeskonzept zur Weiterentwicklung der
       Antisemitismusprävention. Wie gut setzt das Land das um? 
       
       Im Unterschied zu anderen Bundesländern haben wir in Berlin konkrete
       Maßnahmen festgelegt und ein ganz großer Teil ist auch umgesetzt. Wir haben
       uns in vielen Bereichen professionalisiert: Polizei und
       Generalstaatsanwaltschaft haben jetzt Antisemitismusbeauftragte. Und wir
       haben einen Leitfaden zur Erfassung antisemitischer Straftaten entwickelt.
       Der gibt den Kolleginnen und Kollegen auf den Polizeiabschnitten konkrete
       Hinweise und Handlungsanweisungen.
       
       Warum ist das wichtig? 
       
       Wenn wir uns vorstellen, jemand wird körperlich angegriffen mit einem
       antisemitischen Motiv und die Polizei würde nur die Körperverletzung sehen,
       dann würde wesentlich verkannt, dass es ohne den Antisemitismus gar keine
       Körperverletzung geben würde. Außerdem können antisemitische Motive auch
       strafverschärfend wirken. In Berlin ist es aber auch wichtig,
       antisemitische Organisationsstrukturen im Blick zu haben.
       
       Inwiefern? 
       
       Antisemitische Organisationsstrukturen wie Samidoun waren maßgebliche
       Treiber [1][der antisemitischen Proteste] – ohne dass Berlin als Land da
       regulieren konnte. Ich wage mal vorsichtig zu sagen: Wenn die
       Bundesinnenministerin das Verbot früher ausgesprochen hätte, wären die
       Eskalationen hier nicht so heftig ausgefallen.
       
       Wie das? 
       
       An einer antisemitischen Versammlung nehmen nicht spontan und aus dem
       Nichts mehrere tausend Menschen teil. Das sind organisatorische Strukturen,
       die das koordinieren, dazu aufrufen, Parolen vorgeben.
       
       An den proisraelischen Demos haben sich ja eher wenig Menschen beteiligt.
       Zeigt sich darin auch Antisemitismus? 
       
       Da würde ich mir natürlich sehr viel mehr Menschen wünschen. Allerdings
       sind die Demos von sehr breiten Bündnissen getragen: politisch, religiös,
       gesellschaftlich, ökonomisch, aus dem sozialen Bereich. Es ist also eine
       breite Grundhaltung gegen Antisemitismus auf einer repräsentativen Ebene
       da. Und man muss auch sehen, dass es antisemitischen Organisationen
       andererseits viel leichter fällt, mit ihrer aggressiven Emotionalisierung
       zu mobilisieren.
       
       Sehen Sie das wirklich als aggressive Emotionalisierung? So unsicher die
       Quellen auch sind: [2][Wenn wir von mehr als 20.000 getöteten
       Palästinenser*innen ausgehen], sind Trauer und Wut doch angebracht.
       Gerade in Berlin, wo viele ja auch familiäre Bezüge haben.
       
       Die Polizei spricht da oft von Mischlagen: Mit organisierten
       Kaderstrukturen mit einer klar israelfeindlichen antisemitischen Agenda,
       mit spontan dazukommenden Jugendlichen und zunehmend auch mit Gruppen aus
       einem links-antiimperialistischen Milieu. Wir haben sicher auch Menschen,
       die aus eigener Betroffenheit teilnehmen. Aber der Punkt ist: Wer gibt bei
       so einer Versammlung den Ton an? Was steht auf den Transparenten? Welche
       Parolen werden gerufen, welche Musik gespielt? Es gab und gibt ja auch
       Gedenkveranstaltungen ohne antisemitische Parolen. Wenn
       Teilnehmer*innen sich aber hinter antisemitischen Transparenten
       versammeln, tragen sie dafür auch Verantwortung. Es läge an ihnen, klar zu
       widersprechen oder die Versammlung zu verlassen. Das nehme ich bisher kaum
       wahr.
       
       Wie wichtig finden Sie öffentliche Positionierungen? 
       
       In einer repräsentativen Demokratie ist das grundsätzlich wichtig, weil
       Parteien, Religionsgemeinschaften und Verbände eine Repräsentationsfunktion
       haben für die Menschen, für die sie sprechen. Ich finde es auch sehr
       wichtig, dass Personen des öffentlichen Lebens sich einbringen.
       Schauspieler, Musiker, egal aus welchem Bereich, tragen damit Botschaften
       in das Milieu, aus dem sie kommen. Und es ist schon etwas gewonnen, wenn
       Leute dadurch über ihre eigenen Positionen nachdenken.
       
       Gerade von muslimischen Verbänden und von Muslim*innen oder Menschen mit
       arabischem Hintergrund haben Politik und Gesellschaft Distanzierungen
       eingefordert. Ist das gerechtfertigt? 
       
       Es ist klar, dass nicht alle Musliminnen und Muslime antisemitische
       Positionen vertreten. Aber auch in dem Milieu ist ja entscheidend, was die
       repräsentierenden Personen sagen: Wie steuern die, wie wirken die ein?
       Islamisten fokussieren auf den Judenhass, und wenn aus einem muslimischen
       Milieu keine Gegenstimmen kommen, bleibt das im Raum hängen. Die Frage ist:
       Wohin orientieren sich die Menschen, die sich diesem Glauben verbunden
       fühlen? Da ist jede einzelne muslimische Stimme, die sich eindeutig und
       klar gegen Antisemitismus und gegen die Hamas positioniert, extrem wichtig.
       
       Wir machen es uns doch etwas zu leicht, wenn wir Antisemitismus als
       muslimisches Problem betrachten. 
       
       Wir haben im Moment eine extreme Situation der antisemitischen Eskalation
       und sehen, dass Gruppen aus einem islamistischen Kontext, auch aus einem
       arabischen Kontext, das massiv anheizen. Dazu kommen antiimperialistische
       Gruppen. Insofern haben wir das Problem dort ganz konkret. Es geht um
       Volksverhetzung, Antisemitismus, Gewaltverherrlichung, im Zweifelsfall auch
       Gewalt. Insofern finde ich das grundsätzlich den richtigen Fokus, in dieser
       Situation.
       
       Und darüber hinaus? Antijudaismus ist auch Teil des Christentums. 
       
       Dass es auch [3][im christlichen Kontext Antisemitismus] gibt, ist
       offensichtlich. Die evangelische Kirche stellt sich dem seit einiger Zeit
       sehr intensiv. Das ist auch der entscheidende Punkt: Am glaubhaftesten ist
       der Kampf gegen Antisemitismus immer dann, wenn er sich mit der eigenen
       Gruppe auseinandersetzt. Und aktuelle Stereotype schließen an diese sehr
       alten Bilder an.
       
       Trotzdem reden wir sehr viel über den sogenannten importierten
       Antisemitismus. 
       
       Wir wissen mittlerweile, dass weit weniger als ein Prozent der Bevölkerung
       im Nationalsozialismus irgendwie oppositionell war, Jüdinnen und Juden
       geholfen hat. Also, die große Masse hat in irgendeiner Weise partizipiert
       und teilgehabt an den Verbrechen. Wir haben aber immer noch eine nur
       unzureichende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit auf der Ebene von
       Familien. Die zeigt sich in massiver Schuldabwehr in allen Teilen der
       Gesellschaft, auch denen mit Migrationsgeschichte.
       
       Was tun? 
       
       Strukturell müsste mehr an den Schulen passieren. Dort reden wir über den
       Nationalsozialismus, die Vorgeschichte in der Weimarer Republik und die
       Shoah. Dabei vergessen wir oft Judenhass davor und danach. Antisemitismus
       fängt nicht erst beim Mord an: Das ist ein Weltbild, eine Einstellung und
       spielt auch im Alltag eine Rolle. Darauf müssen wir gucken, um hellhörig
       werden zu können, wenn uns Antisemitismus an anderer Stelle begegnet. Als
       Querschnittsthema gehört das in alle Fächer.
       
       Und individuell? 
       
       In vielen Familien liegen alte Fotoalben, die kann man durchblättern und
       gucken, was man entdeckt. Man kann auch mit den Verwandten darüber reden,
       was sie wissen, und so eine Auseinandersetzung in Gang setzen – wohin auch
       immer das dann konkret führt.
       
       Es gibt viele Jugendliche, deren Familien in der NS-Zeit noch nicht in
       Deutschland gelebt haben. Wenn die sagen: Mit mir hat das gar nichts zu
       tun. Was antworten Sie? 
       
       Der Nationalsozialismus war ein verbrecherisches Regime, das im Kontext
       vieler anderer auch faschistischer Regime agiert hat. In den 20er, 30er,
       40er Jahren sehen wir eine Reihe von faschistischen Diktaturen mit
       antisemitischen Elementen in Europa.
       
       Und im arabischen Raum? 
       
       Wir sehen in vielen Staaten Regime, die mit dem Nationalsozialismus
       paktiert haben, etwa der Großmufti von Jerusalem. Es haben muslimische,
       arabische Divisionen gekämpft – freiwillig. Auch die Muslimbrüder schließen
       direkt an solche Ideologien an. Wenn jemand behauptet, Antisemitismus und
       Nationalsozialismus habe mit eigener Familiengeschichte nichts zu tun, ist
       es oft auch Unwissenheit. Bei einzelnen Familien mag das zutreffen, aber in
       Bezug auf Gesellschaften ist es in aller Regel falsch. Und auch in der
       schulischen Präventionsarbeit ist eins unverhandelbar: Es gibt keine
       Rechtfertigung für Antisemitismus. Das würden Schülerinnen und Schüler in
       Bezug auf andere Diskriminierungserfahrungen ja vermutlich auch sagen.
       
       Berlin hat eine große palästinensische Community. Ist die Stadt damit ein
       guter Ort für Austausch? 
       
       Austausch und Dialog fordern viele ein. Dabei muss die Grundlage aber ein
       Konsens gegen Antisemitismus sein. Und das führt oft dazu, dass sich nicht
       alle Akteure beteiligen können oder wollen. Wenn es um Antisemitismus oder
       Israelhass geht, sind Jüdinnen und Juden oft ausgeschlossen. Die jüdische
       Community in Berlin dagegen engagiert sich in vielen Allianzen, etwa gegen
       Rassismus oder Antiziganismus. Von jüdischer Seite ist die ausgestreckte
       Hand schon lange da.
       
       3 Jan 2024
       
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