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       # taz.de -- Arbeit in Behindertenwerkstätten: Für eine Handvoll Euro
       
       > Werkstätten für Behinderte bilden einen Niedrigstlohnsektor. Teilweise
       > produzieren sie Rüstungsgüter. Ein Besuch bei der Lebenshilfe in
       > Bremerhaven.
       
   IMG Bild: Die Lebenshilfe in Bremerhaven zahlt – wie alle Werkstätten – nur einen Bruchteil des Mindestlohns
       
       Als Thomas Rietzke die Außentür öffnen will, hakt es. Noch läuft nicht
       alles rund, die Werkstatthalle der Lebenshilfe ist gerade neu. Sie steht in
       einem Gewerbegebiet in Bremerhaven-Leherheide. Rietzke trägt ein hellblaues
       Kurzarmhemd mit kleinen Karos, dazu Jeans und Turnschuhe. Dass das
       Türschloss nicht richtig funktioniert, kommentiert er milde genervt – als
       Betriebsleiter hat er hier alles zu verantworten. Rund 400 Menschen mit
       Behinderung arbeiten in der Werkstatt in Leherheide. Es gibt hier unter
       anderem einen Fahrradladen, eine Holzwerkstatt, eine Arbeitsgruppe für
       Gartenbau und eine Bäckerei.
       
       Rietzke führt mit Karina Griese durch die Halle. Griese, weiße Bluse,
       dunkelblaue Strickjacke, ist vom Werkstattrat, der die Interessen der
       Menschen mit Behinderung vertritt. Innen gehen von einem weißgestrichenen
       Flur Sanitärräume und Umkleidekabinen mit Metallspinden ab, gegenüber liegt
       die Montagehalle. An Werkbänken sitzen Gruppen von MitarbeiterInnen, mal zu
       zweit, mal zu viert, mal zu sechst um eine Tischinsel, manche im Rollstuhl,
       manche ohne sichtbare körperliche Behinderung.
       
       Auf hohen Metallregalen stehen Kisten und Paletten, an meterlangen Kabeln
       hängen gelbe Starkstrom-Anschlüsse bis herunter zu den Arbeitstischen.
       Griese und Rietzke werden herzlich begrüßt. Alle kennen die beiden, Griese
       ist seit 13 Jahren hier, Rietzke seit 19.
       
       Auf den Tischen stehen Boxen mit jeder Menge kleinen roten Kappen und
       fingerdicken gelben Röhren, etwa zehn Zentimeter lang. Es sind Hülsen für
       Seenotfackeln der Firma Wescom. Das Unternehmen hat in Bremerhaven einen
       Ableger für zivile maritime Notsignale, aber auch eine Rüstungssparte
       namens „Defence“ mit Pyrotechnik fürs Militär. Werbevideos auf der
       Firmenwebseite zeigen, wie Soldaten in Kampfmontur mit Sturmgewehren durch
       das Dickicht schleichen und Signalfackeln zünden. Geworben wird für
       Rauchgranaten und taktische Beleuchtungssignale, die „im Gefecht Leben
       retten“.
       
       Werkstätten für Menschen mit Behinderung bieten jenen, die auf dem ersten
       Arbeitsmarkt ohne weitere Unterstützung keine Chance hätten, einen Ort der
       Begegnung und Beschäftigung. Andererseits sind sie ein Niedriglohnsektor,
       der Behinderte vom ersten Arbeitsmarkt separiert und mit dem sich
       Unternehmen aus der Verantwortung kaufen, mehr echte Inklusion in ihren
       Betrieben einzuführen.
       
       Längst sind Werkstätten keine Bastelstuben mehr, die nur Holzspielzeug und
       Seifenschalen herstellen, wie sie auch im Shop der taz erhältlich sind.
       Heute vergeben viele Firmen Aufträge an Werkstätten, die sich günstiger per
       Hand als maschinell erledigen lassen: Dienstleistungsaufträge,
       Verpackungen, Versand, Gartenarbeiten, Montage und Vorarbeiten für die
       industrielle Produktion. Menschen mit Behinderung fertigen Autoteile für
       Mercedes Benz, verschicken Werbematerial für Fritz-Kola, sortieren
       Klappboxen für die Drogeriekette dm.
       
       ## Wissen die Beschäftigten, was sie da zusammenbauen?
       
       Aber Rüstungsgüter wie für Wescom? Ahnen die Menschen mit Behinderung, was
       sie da produzieren? Können sie sich bewusst dafür entscheiden?
       
       Dazu hatte die taz eine Zuschrift von einem Pflegevater erreicht. Er habe
       eines seiner Kinder besucht, das derzeit in der Bremerhavener Werkstatt
       tätig sei. „Wir waren verwundert, dass dort Auslöser zusammengebaut werden,
       offenbar für die Bundeswehr“, schreibt er und schickt mehrere Fotos mit.
       Sie zeigen fingerdicke kupferfarbene Hülsen, dünne Metallstifte und
       Springfedern, die sich in Plastikboxen stapeln. Ein Waffenexperte bestätigt
       der taz: Die Fotos zeigen „mechanische Auslöser für Bodenleuchtkörper“. Im
       Fachjargon: „DM 26 und DM 57“.
       
       Individuell engagieren sich die Bremerhavener Betreiber und
       MitarbeiterInnen alle für soziale Belange. Wird es dem Thema gerecht, die
       Arbeit in einer einzelnen Werkstatt zu brandmarken?
       
       Betriebsleiter Rietzke spricht offen über die Aufträge von Wescom. Früher
       hätten sie mehr für die Rüstungssparte gearbeitet, heute gehe es
       überwiegend um deren Seenotrettungs-Artikel. Er holt eine Kiste mit
       allerlei Teilen hervor, die die Werkstatt für Wescom bearbeitet. Keine
       Sprengstoffe oder Waffen, das ist ihm wichtig, sondern Papprollen, gelbe
       Hüllen für Seenotfackeln, aber auch die Auslöser mit einem Stolperdraht.
       Der wird an Kartuschen mit Leuchtmitteln montiert, um militärische Lager zu
       schützen und vor Eindringlingen zu warnen.
       
       Wissen die Menschen mit Behinderung nun, an was sie da arbeiten? Berichte
       über die Produktion solcher Teile durch die Lebenshilfe gab es bereits
       2013. Damals sei in Bremerhaven ausführlich darüber diskutiert worden, auch
       unter Einbeziehung der Beschäftigten. Werkstatträtin Griese erklärt, dass
       ihre KollegInnen mit der Produktion einverstanden seien. „Die Bundeswehr
       hilft im Notfall, da können wir ihr auch helfen“, sagt sie. „Wir
       produzieren nur Dinge für deren Schutz, kein Kriegsgerät. Es ist wichtig,
       dass sich die Soldaten selbst schützen.“
       
       ## „Existenzielle Geschäftsbeziehungen“
       
       Nicht immer wisse er bei jedem Teil, wofür es gut ist, sagt Rietzke. Und
       vermutlich wissen es auch nicht alle Beschäftigten immer genau. Aber so,
       wie Griese es vorträgt, klingt es keineswegs ahnungslos. Sie weiß auch,
       dass der Auftrag ihren Lohn sichert. „Die Geschäftsbeziehungen zu Wescom
       sind für uns existenziell“, sagt Rietzke. Es gebe in Bremerhaven nicht
       allzu viele Auftraggeber aus der Industrie.
       
       Für die Firmen lohnt sich die Produktion in einer Werkstatt in mehrfacher
       Hinsicht. Sie werben mit sozialem Engagement und können Kosten sparen –
       unter anderem bei der sogenannten Ausgleichsabgabe. Die soll eigentlich
       mehr Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt bringen. Dafür
       gibt es viele Unterstützungsmöglichkeiten, wie Lohnzuschüsse, persönliche
       Arbeitsassistenzen oder technische Hilfsmittel.
       
       Im Sinne der Inklusion sind Arbeitgeber ab 20 Arbeitsplätzen verpflichtet,
       mindestens 5 Prozent ihrer Stellen mit Schwerbehinderten zu besetzen.
       Ansonsten ist eine gestaffelte Abgabe an das Integrationsamt fällig. Doch
       wer Behindertenwerkstätten beauftragt, kann die Hälfte der Rechnung mit
       dieser Ausgleichsabgabe verrechnen. Manche Werkstätten, wie die der Caritas
       im Westerwald, werben offensiv mit dieser Ersparnis für Unternehmen und
       stellen Beispielrechnungen an.
       
       Auch die Arbeit ist in Werkstätten günstig. 2009 las man in einem
       Firmenporträt in der Wirtschaftswoche, wie beispielsweise der
       Kinderfahrzeughersteller Puky es schafft, ausschließlich im „Hochlohnland
       Deutschland“ zu produzieren: Möglich sei das nur durch die Zusammenarbeit
       mit Behindertenwerkstätten. Die eigenen MitarbeiterInnen bearbeiteten und
       beschichteten zwar das Metall, „für das Zusammenschrauben eines Fahrrads
       sind die Löhne in Deutschland aber zu hoch“, erklärte der damalige
       Geschäftsführer gegenüber der Zeitung.
       
       Die Kritik an solchem Geschäft wurde in den letzten Monaten immer lauter.
       Eine Petition fordert den Mindestlohn, Werkstatträte ein Basisgeld. Seit
       Mitte Juni prangern Beschäftige unter dem Hashtag #ihrbeutetunsaus auf
       Twitter die Arbeitsbedingungen in den Werkstätten an. Mit Fotos, etwa von
       unappetitlichem Essen aus einer Kantine, wurde über die sozialen Medien
       sichtbar, was oft verdrängt wird.
       
       ## „Es wird vermarktet, dass wir behindert sind“
       
       Ins Leben gerufen hat die Schlagwort-Kampagne die 35-jährige Ela, die sich
       auf Twitter „Johannisbeere“ nennt. „Es wird vermarktet, dass wir behindert
       sind“, sagt sie der taz. „Das ist das falsche Bild. Wir müssen Qualität
       liefern und arbeiten für namhafte Unternehmen. Wenn die Gesellschaft das
       erst einmal anerkennt, gehört auch eine bessere Bezahlung dazu“, sagt sie.
       
       Seit über zwei Jahren arbeitet Ela in einer Werkstatt für behinderte
       Menschen. Sie ist psychisch erkrankt. Derzeit lebt sie in einer
       Einzimmerwohnung in einer Stadt in Süddeutschland. Genauer möchte sie es
       nicht in der Zeitung lesen, auch ist Ela nur ihr Spitzname. Sie befürchtet
       Stigmatisierung. Griffe für Bohrmaschinen hat sie schon hergestellt,
       Schleifpapier verpackt, gläserne Schubladen-Fronten kontrolliert. Derzeit
       beklebt Ela Pferdekoppeln für den Spielzeughersteller Schleich. Auch
       Plastikteile für dessen Pferdeanhänger hat sie schon zusammengesetzt.
       
       Ela mag ihre KollegInnen. Die Werkstätten möchte sie nicht abschaffen,
       sondern verbessern. „Einerseits setzen die Firmen auf unsere Arbeit,
       andererseits wollen sie es aber nicht Arbeit nennen“, sagt sie.
       Beschäftigte in den Werkstätten werden per Gesetz als „arbeitnehmerähnlich“
       definiert. Dafür haben sie einen weitgehenden Kündigungsschutz, dürfen aber
       auch nicht streiken und fallen nicht unter den gesetzlichen Mindestlohn.
       
       Ihr Arbeitstag beginnt morgens um 9 Uhr und endet um 13.45 Uhr. Die meisten
       ihrer KollegInnen seien länger da, erzählt sie, von 7.40 Uhr bis 15 Uhr.
       Aber bei ihr habe der Arzt zu einem kürzeren Arbeitstag geraten. Abzüglich
       zweier kleinerer Pausen und einer Mittagspause arbeitet Ela 3,5 Stunden pro
       Tag. Dafür bekommt sie ein Arbeitsentgelt von rund 250 Euro pro Monat. Der
       Bundesdurchschnitt liegt bei monatlich rund 224 Euro. Durch die
       Grundsicherung wird Elas Geld aufgestockt, sodass sie im Monat von ungefähr
       800 Euro lebt. Auch das ist keine unübliche Summe.
       
       In der Halle in Bremerhaven beugen sich zwei Frauen über einen Werktisch.
       Sie rupfen Saugeinlagen aus Plastikschalen, wie man sie von
       Hackfleischverpackungen aus dem Supermarkt kennt. Einlagen nach links,
       Schalen nach rechts. Stapelweise. Hinter ihnen stehen weitere Paletten mit
       weiteren Plastikschalen und weiteren Saugtüchern. Eine eintönig
       erscheinende Arbeit.
       
       ## Leerlauf während der Pandemie
       
       Ein Mann kommt von einer der Tischgruppen hinzu. Er heißt Boris Cohrs,
       trägt T-Shirt und eine lockere Hose und ist schon fast so lange hier wie
       Betriebsleiter Rietzke. Cohrs spielt auch in der Band der Lebenshilfe und
       trommelt auf der Cajón, einer Kistentrommel. Er erzählt von den
       Werkstatt-Tätigkeiten. „Wenn der Auftraggeber will, dann muss es manchmal
       ganz schnell gehen“, sagt er. „Zack, zack.“ Er klatscht sich mit der einen
       Hand in die Innenfläche der anderen. Dabei wirkt er nicht gestresst,
       sondern stolz. Darauf, dass sie hier etwas leisten, wegschaffen, pünktlich
       liefern. Woran er am liebsten arbeitet? Er zeigt nach links: „An den
       Plastikschalen.“
       
       Die Bremerhavener Werkstatträtin Griese erzählt, dass die Gruppe ganz
       hibbelig werde, wenn es nichts zu tun gibt. „Es war schrecklich, wegen der
       Coronapandemie Leerlauf zu haben.“ Aus Schutz vor dem Coronavirus bestand
       für die MitarbeiterInnen mit Behinderung im Frühjahr 2020 und 2021 für
       mehrere Wochen ein Betretungsverbot für die Werkstätten. In Bremerhaven
       übernahmen die verbliebenen MitarbeiterInnen teilweise die Arbeit, um den
       Betrieb am Laufen zu halten. Wie das war? Rietzkes Mund sagt: „Wir haben es
       schon hinbekommen.“ Sein Gesichtsausdruck sagt: mehr schlecht als recht. Er
       betont, dass die Arbeit anstrengend und hochwertig sei.
       
       Wie die Stellung und Rechte der Menschen mit Behinderung unterlagen auch
       die Werkstätten seit ihren Anfangstagen einer Entwicklung. Analog zur
       zentralen Bedeutung von Arbeit und Arbeitsfähigkeit in der bürgerlichen
       Gesellschaft war mit der Betätigung und Arbeit von behinderten Menschen
       auch historisch die Idee der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
       verbunden. Als „beschützende Werkstätten“ entstanden die Vorläufer Anfang
       der 1960er Jahre, das „Schwerbehindertengesetz“ schuf 1974 die Grundlage
       für eine Konzeption der „Werkstätten für Behinderte“, mit dem Ziel der
       Eingliederung Behinderter in das Arbeitsleben.
       
       Das wäre auch heute eine ihrer Aufgaben. Doch die Vermittlungsquote in den
       ersten Arbeitsmarkt liegt bundesweit bei unter 1 Prozent. Das bemängeln
       sogar die Vereinten Nationen. Laut UN-Behindertenrechtskonvention hat jeder
       Mensch mit Behinderung das Recht, seinen Lebensunterhalt selbst zu
       verdienen. 2015 zeigte sich der UN-Fachausschuss in Bezug auf den
       segregierten Arbeitsmarkt in Deutschland besorgt und sah die Vorgaben mit
       den Werkstätten nicht erfüllt. Er empfahl deren schrittweise Abschaffung.
       
       Das sorgt seitdem für heiße Diskussionen. Im August 2020 beauftragte das
       Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine wissenschaftliche
       Arbeitsgruppe mit einer mehrjährigen Forschung, um Werkstätten zu
       reformieren.
       
       ## Branchenumsatz: 8 Milliarden Euro
       
       Kein kleines Vorhaben in einer Branche, für die als Jahresumsatz die Summe
       von 8 Milliarden Euro kursiert. Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft der
       Werkstätten für behinderte Menschen muss diese Zahl jedoch differenziert
       betrachtet werden. Sie stamme aus einer von ihr in Auftrag gegebenen Studie
       von 2014 und umfasse zweierlei: einerseits das Geld, das Werkstätten durch
       Aufträge erwirtschaften und welches zu 70 Prozent als Entgelt an die
       Menschen mit Behinderung ausgezahlt werden muss. Andererseits, in deutlich
       größerem Umfang – etwa zwei Drittel –, die Kostensätze, als Beträge, die
       die Werkstätten für den Betrieb und die Unterstützung der Beschäftigten aus
       der öffentlichen Hand erhalten. Also beispielsweise für Personalkosten,
       Fahrdienste oder sozialpädagogische Betreuung. Diese werden durch
       Sozialhilfe- oder Rehabilitationsträger übernommen: hauptsächlich
       Eingliederungshilfe, Bundesagentur für Arbeit, Unfallversicherung.
       
       Dieser komplexen und getrennten Finanzierung entspricht auch eine
       zweigeteilte Bezahlung der Beschäftigten. Diejenigen, die in den
       Werkstätten in der Verwaltung oder als BetreuerInnen angestellt sind,
       werden meist nach Tarif bezahlt – oder deutlich darüber.
       
       Beispielsweise in den Elbe-Werkstätten in Hamburg, in denen unter anderem
       Fritz-Kola seine Werbeartikel konfektionieren lässt: Während dort das
       durchschnittliche Arbeitsentgelt 2021 bei rund 270 Euro pro Monat lag,
       verdienten die beiden Geschäftsführer laut Jahresabschluss 2021 inklusive
       Tantiemen und Coronabonus 116.000 beziehungsweise 140.000 Euro im Jahr.
       
       Allerdings: Sie managen nach eigenen Angaben die größte Werkstatt
       Deutschlands, die rund 3.100 Menschen mit Behinderung einen Arbeitsplatz
       bietet, zuletzt mit einem Umsatzerlös von 92 Millionen Euro. Für ein
       Unternehmen dieser Größe ist ein Gehalt von monatlich über 10.000 Euro in
       der Geschäftsführung sehr üblich.
       
       Der Geschäftsführer versicherte der taz, dass sein Gehalt allein über die
       Kostensätze und keineswegs über die Arbeitsleistung der Menschen mit
       Behinderung erwirtschaftet wird. Ohnehin: Seine Bezüge lassen sich
       betrachten, weil die Elbe-Werkstätten als GmbH – und überwiegend in der
       Hand der Stadt Hamburg – ihren Jahresabschluss transparent veröffentlicht.
       Andere große Werkstätten sind Vereine und legen ihre Bilanzen nicht so
       offen. Dennoch verdeutlicht das Hamburger Beispiel die große Spanne in der
       Bezahlung derjenigen, die in einer Werkstatt arbeiten.
       
       Das Arbeitsentgelt in Bremerhaven beträgt für die Beschäftigen mit
       Behinderung innerhalb der Werkstatt zwischen 180 und 250 Euro. Auch der
       Bremerhavener Betriebsleiter Rietzke kennt die Diskussion um bessere
       Bezahlung. Man sei darum bemüht. „Aber die Gesetzeslage ist kompliziert.
       
       Den Ertrag, um einen Mindestlohn zu zahlen, kann die Werkstatt nicht allein
       erwirtschaften, das muss im Gesamtpaket geregelt werden“, sagt er. Man
       hänge an den Aufträgen und da werde knallhart verhandelt – teilweise um
       Centbeträge. „Wenn wir pro Artikel mehr Geld verlangen, geht der
       Auftraggeber zu einer anderen Werkstatt – oder im Zweifel in eine JVA.“
       
       ## Keine Betreuungsmöglichkeiten bei den Auftraggebern
       
       Die taz hat alle in diesem Bericht genannten Firmen, die Aufträge an
       Werkstätten für Menschen mit Behinderung vergeben, gefragt, ob die Menschen
       nicht auch direkt bei ihnen angestellt sein könnten. Wescom erklärte, dafür
       mangele es an einem Betreuungskonzept. Ähnlich antwortete Fritz-Kola und
       verwies unter anderem auf Pflegetätigkeiten, Ergo- und Physiotherapie in
       den Werkstätten. Schleich und Puky antworteten bis Redaktionsschluss nicht.
       
       Mercedes Benz und die Drogeriekette dm gaben auf diese Frage keine konkrete
       Antwort; dm erklärte aber, dass in Deutschland rund 4 Prozent der mehr als
       42.000 Mitarbeitenden eine Behinderung hätten, bei der Mercedes Benz Group
       sind es mit 6.700 von 115.000 fast 6 Prozent. Bei Fritz-Kola arbeitet
       derzeit kein einziger Mensch mit Behinderung. Und die Firma, die mit 10 von
       98 die höchste Quote an festangestellten MitarbeiterInnen mit Behinderung
       angab? Wescom in Bremerhaven.
       
       25 Jul 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jean-Philipp Baeck
       
       ## TAGS
       
   DIR Leben mit Behinderung
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