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       # taz.de -- Arbeitsbedingungen bei der Charité: Krankenhaus bleibt krank
       
       > Der Tarifvertrag, der Mindestbesetzung der Stationen vorschreibt, wird
       > nicht eingehalten, kritisiert Verdi und will nachbessern. Erneut droht
       > ein Streik.
       
   IMG Bild: Trotz Vereinbarung zu Mindestbesetzung: PflegerInnen der Charité weiter chronisch überlastet
       
       An der Charité droht ab Sommer erneut ein Arbeitskampf. Nach Ansicht von
       Verdi hält sich die Arbeitgeberseite in vielen Punkten nicht an den im
       vorigen Jahr abgeschlossenen Tarifvertrag. So lautete der Tenor einer
       Bilanzpressekonferenz am Mittwoch. Die Gewerkschaft will daher den zum 30.
       Juni auslaufenden Vertrag nachbessern.
       
       Doch die Gegenseite weigert sich. „Die Charité lehnt es ab, erneut das
       Versuchsfeld der Tarifpolitik von Verdi zu sein für ein bundespolitisches
       Gesundheitsproblem“, sagte der Ärztliche Direktor Ulrich Frei der taz. Dann
       werde man eben streiken, erwiderte Carsten Becker,
       Verdi-Betriebsgruppenleiter der Klinik. „Die Signale der Beschäftigten sind
       ganz klar.“
       
       Im April 2016 hatten die landeseigene Klinik und die Gewerkschaft nach
       jahrelangen Verhandlungen und mehreren Streiks einen viel beachteten
       Tarifvertrag abgeschlossen. Darin wurde erstmals eine Mindestausstattung
       mit Personal für Intensivmedizin, stationäre Krankenpflege und Kinderklinik
       festgelegt sowie eine Aufstockung der Nachtdienste um bis zu 40 Stellen
       vereinbart. Zudem wurden abgemacht, dass bei Personalmangel
       Leiharbeitskräfte anzufordern oder Betten zu sperren sind, um eine
       Überlastung der Mitarbeiter zu vermeiden.
       
       Der Abschluss wurde damals von CDU bis Linkspartei als Novum mit
       bundesweiter Signalwirkung gefeiert. Tatsächlich will inzwischen sogar die
       Große Koalition im Bund Untergrenzen für die personelle Ausstattung von
       Kliniken vorschreiben, wie Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU)
       vorige Woche erklärte. Auch Verdi lobt: „Der Tarifvertrag war ein guter und
       erster Einstieg in die Debatte um gute Arbeit im Krankenhaus“, so
       Gewerkschaftssekretär Kalle Kunkel am Mittwoch. Es sei schön, dass es jetzt
       bundesweit Nachahmer gebe. Aber: Die Vereinbarung kranke grundsätzlich
       daran, dass sie keinerlei Sanktionen vorsehe, wenn sich eine Seite nicht
       daran hält.
       
       ## Stellen beim Nachtdienst reduziert statt aufgestockt
       
       Genau das wirft Verdi der Charité vor: So habe sie bis heute keine Zahlen
       vorgelegt, wie viel Personal für die Intensivmedizin zur Verfügung stehen.
       Bei 50 Prozent der Normalstationen fehle mindestens eine Pflegekraft; auf
       knapp 30 Prozent der Stationen „werden zwischen 10 und 25 Prozent weniger
       Pflegekräfte eingesetzt als durch den Tarifvertrag vorgesehen“, so Kunkel.
       Zudem sei die Zahl der Nachtdienststellen nicht aufgestockt, sondern sogar
       um 20 Stellen reduziert worden.
       
       Was dies für die Mitarbeiter bedeutet, schilderte Krankenpflegerin Astrid
       Rischawy-Mariano so: „Wir werden häufig gebeten, kurzfristig in anderen
       Stationen auszuhelfen. Aber das reißt ein Loch in einer anderen Station.“
       Wenn jemand krank sei, gebe es keinen Ersatz, „Betten werden nicht
       gesperrt, alles läuft ganz normal.“ So habe eine Pflegekraft dann tagsüber
       teils 15 bis 16 PatientInnen zu versorgen – statt wie vorgesehen 8 bis 9.
       
       Auch Armin Thomaß, Pfleger auf der Intensivstation und Mitglied der
       Verdi-Tarifkommission, berichtete: „Es ist ein täglicher Kampf um jedes
       Bett.“ Wenn Personal auf einer Station fehlt, könne man nicht einfach
       Leiharbeiter anfordern, sondern müsse eine komplizierte Bürokratie in Gang
       setzen – mit dem Ergebnis, dass Ersatzpersonal zu spät oder gar nicht
       kommt. Und wenn Betten gesperrt werden müssten, um Personal zu entlasten,
       verhindere dies häufig der kaufmännische Direktor mit dem Argument, man
       brauche die Einnahmen.
       
       ## Leiharbeit massiv abgebaut
       
       Eine der Ursachen für den eklatanten Personalmangel ist aus Verdi-Sicht,
       dass die Charité zwar mehr Personal eingestellt, gleichzeitig aber massiv
       Leiharbeit abgebaut habe. Das sei „absolut unverständlich“, so Kunkel,
       solange man nicht genug festes Personal habe, um die vertraglich
       festgelegte Personalausstattung überhaupt zu erreichen.
       
       Dagegen lobt der Ärztliche Direktor Frei, die Charité habe „trotz der
       schwierigen Arbeitsmarktlage mehr als 200 Vollkräfte in Pflege- und
       Funktionsdienst eingestellt“. Und man werde auch die absehbar notwendigen
       weiteren 70 Kräfte einstellen. Die Gewerkschaft sei nur unzufrieden, „weil
       ihr kurzfristige Eingriffe in Personalführung und Bettenkapazität
       verweigert wurden“.
       
       Verdi hofft nun auf ein Machtwort der Politik. Kommende Woche tagt der
       Charité-Aufsichtsrat, dessen Vorsitzender der Regierende Bürgermeister ist.
       Im vorigen Jahr hätten alle den Vertrag gelobt, erinnert Kunkel: „Wir
       werden sehen, wie die Politik nun dazu steht.“
       
       16 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
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