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       # taz.de -- Architekturbiennale Venedig: Eine Reparatur am Gegebenen
       
       > Zukunft ist in Venedig etwas Hoffnungsvolles. „The Laboratory of the
       > Future“ hat Kuratorin Lesley Lokko die aktuelle Architekturbiennale
       > benannt.
       
   IMG Bild: Hinter dem Arsenale hängen Plastikteppiche von Serge Attukwei Clottey über dem Wasser
       
       An einer Venedig-Biennale lässt sich auch immer der Zustand der Welt
       ablesen. An keinem anderen Ort drängt sich jährlich ein globaler
       Kulturbetrieb auf so einen begrenzten Raum wie in der Lagunenstadt. Im
       letzten Jahr auf der Kunstbiennale, die nur wenige Wochen, nachdem Russland
       seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hatte, stattfand, war der
       leere russische Pavillon Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit.
       
       Jetzt, auf der am Samstag eröffneten Architekturbiennale, ist es schon zur
       Normalität geworden, dass der verzierte Bau mit Holzlatten verrammelt und
       verwaist ist. Menschen strömen durch die nationalen Pavillons in die
       Giardini. Sie begehen den benachbarten japanischen und den
       gegenüberliegenden skandinavischen Pavillon, doch am russischen Pavillon
       läuft man beklommen vorbei, als sei er eine Leiche unter Lebenden.
       
       ## Der Nihilismus des Kriegs
       
       Die drei Kurator:innen der Ukraine – erstmals nimmt das Land seit der
       Krim-Invasion Russlands 2014 wieder an der Architekturbiennale teil – haben
       nur ein paar Meter weiter einen symbolischen Schutzwall bauen lassen. In
       leichter Schräge erhebt sich dort der mit Gras bewachsene Boden so leicht
       und grün, dass auch diesen Verweis auf ein bedrohtes Land viele zu
       übersehen scheinen. Im Arsenal haben Iryna Miroshnykova, Oleksii Petrov und
       Borys Filonenko für die Ukraine einen weiteren Raum eingerichtet. In ihm
       nichts als düstere Leere. Der Nihilismus des Kriegs, er erstickt jedes
       Ansinnen, etwas zu schaffen, etwas zu bauen.
       
       Der ukrainische ist wohl der dunkelste Beitrag auf dieser
       Architekturbiennale. Denn obwohl die künstlerische Leiterin Lesley Lokko
       die globalen Krisen unserer Gegenwart anspricht, tut sie dies mit einem
       schon beeindruckenden Optimismus. Jetzt dürfe die Kunst nicht still stehen,
       sagt Lokko auf der Pressekonferenz. „The Laboratory of the Future“ nennt
       die Architekturwissenschaftlerin und Romanautorin ihre Biennale. Und die
       Zukunft hat hier noch etwas Hoffnungsvolles. Das mag auch an der
       Architektur an sich liegen, die immer der Produktion von Räumen gewidmet
       ist, und so in sich ja schon etwas Konstruktives, Problemlösendes birgt.
       
       ## Das Desolate umwenden
       
       Also begegnet man in Venedig immer wieder Versuchen, das Desolate
       umzuwenden. Der türkische Pavillon widmet sich den vielen Bauruinen seines
       Landes, oftmals gar von Investoren verlassene Siedlungen. Wie wäre es, sich
       die nie bewohnten Bauten anzueignen, selber auszubauen und das Ruinöse
       ästhetisch anzunehmen, anstatt es zu verneinen?
       
       Der in Accra arbeitende Serge Attukwei Clottey sammelt Ölkanister, wie sie
       häufig über den globalen Handel als Plastikabfall in Ghana landen. Er
       zerschneidet sie in kleine Platten und verknüpft sie zu großen Flächen,
       genauso beeindruckend wie die amorphen Strukturen aus tausenden
       Metallschnipseln des ghanaischen Bildhauers El Anatsui. Den Plastikgeweben
       lässt sich auch eine Funktion abgewinnen, als Sonnenschutz, Windschutz. Und
       sie können warnen. Hinter dem Arsenale schwimmen sie nun auf dem Wasser,
       wie der Ölteppich nach einer Tanker-Havarie.
       
       ## Weibliche Psychogeografie der Stadt
       
       „Dinge werden sichtbar in Afrika, die im globalen Norden eher unsichtbar
       sind: Konflikte und Lösungen zu den Themen Klimawandel, Ökologie,
       Datennutzung, neue Modelle von Besitz, Telekommunikation“, sagte Lokko
       kürzlich der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Als Lesley Lokko 2021 zur
       künstlerischen Leiterin der Biennale berufen wurde, hatte die Tochter einer
       Schottin und eines Ghanaers gerade in Accra das „African Futures Institute“
       gegründet. Eine Architekturschule, deren Lehre auch jenseits des
       etablierten Akademismus stattfinden soll.
       
       Sie trug ihre Ideen zum „African Futures Institute“ auch in diese Biennale
       hinein: Noch nie waren so viele Architekturbüros aus Afrika beteiligt wie
       in diesem Jahr, selten wurden in einer Architekturschau Datenanalysen und
       Statistiken um erzählerische und poetische Formen ergänzt.
       
       Designerin und Künstlerin Ibiye Camp etwa sammelt mit einem beweglichen
       Telefonmast Gespräche von Mobilfunkgeräten der Menschen auf belebten
       Marktplätzen und bündelt die unkenntlich gemachten digitalen Daten zu einer
       Audiomorphologie städtischer Orte in Sierra Leone und Nigeria. Die unter
       dem Künstlernamen Blac Space arbeitende Kgaugelo Lekalakala aus Südafrika
       beschreibt in ihrem traumartigen Video eine weibliche Psychogeografie der
       Stadt, erzählt von Ängsten auf täglichen Wegen, von Übergriffen, von
       Ignoranz.
       
       ## Eine sphärische Struktur
       
       Nur wenige Namen der in Afrika ansässigen Architekturbüros auf dieser
       Biennale sind bekannt. Stararchitekt David Adjaye gehört dazu. Es reicht
       schon an einen Werbeauftritt, dass Lesley Lokko so auffallend viele Modelle
       von Adjayes Projekten auf dieser Biennale präsentiert. Sie zeigen, welch
       große Kulturbauten er derzeit abseits des europäischen Radars plant: Das
       African Cultures Institute im Emirat Schardscha, oder das Edo Museum of
       West African Art in Benin City, in dem irgendwann einmal auch die aus
       europäischen Museen restituierten Benin-Bronzen öffentlich ausgestellt
       werden müssten, anstatt – wie es sich derzeit in Nigeria entwickelt –
       [1][in Privatkammern königlicher Nachfahren zu landen]. Für die Mäzenin
       Kiran Nadar baut er derzeit das größte Kulturzentrum Indiens.
       
       Von seinem Büro Adjaye Associates steht auch eine sphärische Struktur aus
       geschwärzten Holzbalken am Hafen des Arsenals. Das Kwaeε („Wald“ auf Twi)
       ist ein Prisma. Ein schöner architektonischer Moment, der zeigt, welche
       gebauten Räume möglich sein können.
       
       ## Kohabitation von Stadt und Natur
       
       Daneben reihen sich nun Namen wie atelier masōmi aus Niger oder Cave_bureau
       aus Kenia. Koffi & Diabaté Architectes aus Elfenbeinküste sind mit gut 70
       Mitarbeiter:innen das größte Büro in einem Land, in dem es keine
       richtige Architekturausbildung gibt. Eine Leerstelle, denn in den
       Subsahara-Ländern wird in Zukunft viel gebaut werden, sehr viel. Afrikas
       Bevölkerung südlich der Sahara wird sich UN-Prognosen zufolge bis 2050
       verdoppeln.
       
       Koffi & Diabaté visionieren, welche Form einer „afrikanischen Stadt“ dieses
       Wachstum auffangen könnte: Ein 6.000-Einwohner-Dorf unweit der
       Wirtschaftsmetropole Abidjan etwa soll um ein Archipel von Wohn- und
       Arbeitsgebäuden erweitert und von einer hochtechnologisierten Transport-
       und Kommunikationsinfrastruktur umschlossen werden. Vor allem aber soll es
       von einem fortlaufenden Wald durchwoben sein – eine Kohabitation von Stadt
       und Natur.
       
       ## Ein korrigierendes Draufschauen
       
       Auf dieser Architekturbiennale begegnet einem überall ein Nachdenken
       darüber, wie wir unsere krisenhafte Gegenwart erfassen, mit ihr
       architektonisch umgehen können. Wenn Künstlerin Karin Sander im Schweizer
       Pavillon eine später hochgezogene Wand zum anliegenden Bau wieder öffnet
       oder das Kollektiv AKT mit Hermann Czech die verschlossenen Giardini über
       einen Durchgang im österreichischen Pavillon öffentlich zugänglich machen
       will (aber an den venezianischen Behörden scheitert), dann sollen hier
       Beispiele für ein korrigierendes Draufschauen auf die Verhältnisse gemacht
       werden. Der Versuch einer sogenannten Reparatur am Gegebenen.
       
       Das Kuratorenteam um den deutschen Pavillon hat mit seinem Projekt „wegen
       umbau geöffnet“ mit örtlichen Initiativen eine Infrastruktur angelegt, um
       nicht mehr benötigte Materialien der Biennale in eine Kreislaufwirtschaft
       einfließen zu lassen. Sie finden auch bei der Restaurierung leerstehender
       Sozialwohnungen in Venedig Verwendung, davon gibt es nämlich erstaunliche
       über 2.000. Neben der Fülle hinterlassener Dinge vergangener Ausstellungen
       wurde im deutschen Pavillon auch eine Werkstatt aufgebaut – und eine
       öffentliche Trockentoilette. Den gesammelten Urin des Biennalepublikums,
       das sich hier entleeren darf, wird ein Ökobauer als Dünger einsetzen.
       
       Der finnische Pavillon besteht nur aus einer solchen Trockentoilette. Es
       ist ein hübsches Örtchen aus Holz und soll bald als öffentliche Toilette
       in Venedig aufgestellt werden, ohne rares Leitungswasser zu beanspruchen.
       Die Finnen bewerben damit die Firma Biolan, die diese Toilette industriell
       herstellen kann. Architektur ist auch Wirtschaft, das lernt man auf dieser
       Biennale ebenso.
       
       20 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Restituierte-Benin-Bronzen/!5907410
       
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