# taz.de -- Kapitulation vor dem Prinzip Chaos
> Vor 250 Jahren revolutionierte die Encyclopédie die Ordnungen des Wissens
> und verwirrte ihre Leser: Sie sortierte alles über Gott und die Welt von
> A bis Z. Der große Eichborn-Band über „Die Welt der Encyclopédie“
> vermittelt einen kleinen Einblick
von SABINE VOGEL
„Eine Enzyklopädie duldet – streng genommen – überhaupt keine Auslassung.“
Davon war der Herausgeber der „Encyclopédie“, Diderot, überzeugt. So ist es
auch nicht verwunderlich, dass sich das Werk schließlich über 17 Text- und
11 Tafelbände erstreckte, deren letzter im Jahre 1772 erschien. Und in noch
einer Hinsicht sollte das Werk neu und bahnbrechend sein: Alles Wissen
wurde geordnet in der Form eines „Baumes des menschlichen Wissens“. Die
Idee der Ordnung des Wissens war zwar grundsätzlich nicht neu. Neu war
jedoch die Hierarchie: Nicht mehr die Religion, sondern die Vernunft
bildete den Stamm des Baumes.
Das war eine Kampfansage an die traditionellen Hüter des Wissens. Staat und
Kirche zögerten nicht lange und versuchten die Publikation zu unterbinden,
indem sie Diderot verhafteten und das Werk auf den Index setzten. Das
wirkte wie so oft eher werbend, und so stieg die Zahl der Bestellungen auf
das Dreifache.
Bis heute übt das Projekt „Enzyklopädie“ eine große Faszination auf die
Fachwelt aus. Der Historiker Robert Darnton rühmt es gar als „das
Unternehmen, um das herum die Aufklärung überhaupt zu einer Bewegung mit
einem Programm, einer Partei und einem gemeinsamen Feind“ wurde. Zum 250.
Geburtstag der Encyclopédie hat der Eichborn-Verlag nun 250 ihrer Artikel
übersetzt und publiziert. Doch was sagt die Encyclopédie dem „normalen
Leser“ heute noch?
Die zeitgenössischen Leser wussten, dass Diderot und d’Alembert keineswegs
innovativ waren, als sie 1751 den ersten Band ihrer Encyclopédie
herausgaben. Schon seit über 500 Jahren gab es Sammelbände, die den „Kreis
des notwendigen Wissens“, so die wörtliche Übersetzung von Enzyklopädie,
zusammenstellten. Aus allen Quellen schöpfen: aus antiker und
mittelalterlicher Überlieferung, aus den neu entstehenden
Naturwissenschaften und aus der eigenen Erfahrung, das wollten
wissbegierige Leser schon 200 Jahre vor dem Zeitalter der Vernunft. Für sie
veröffentlichten französische, italienische und deutsche Verleger der
Renaissance Kompendien des damals aktuellen Kenntnisstandes. Und mehr noch:
sie ordneten ihn entsprechend der Ordnung der Welt, wie es schon das
mittelalterliche Sammelwerk des Vinzenz von Beauvais tat: Er fasste in
seinem Speculum maius alles zusammen, was er für wichtig hielt. Seine
Ordnung begann mit Gott und setzte sich (in umgekehrter Reihenfolge der
Schöpfungsgeschichte) über die Menschen, die Tiere, die Pflanzen etc. fort.
Für den Kirchenmann Vinzenz ließ sich so für alles Wissenswerte ein Platz
in der Ordnung der Dinge finden, denn die war ja ohnehin von Gott selbst
geschaffen.
Die Herausgeber der Renaissance-Enzyklopädien hatten da schon mehr
Probleme. Wie etwa sollte man antike Tugenden einordnen, wie die
Reformation? Sie mühten sich, die Ordnung aufrechtzuerhalten, begannen
folglich mit Fragen der Religion, modifizierten die folgenden
Gliederungspunkte leicht und fügten am Ende die Rubrik „Sonstiges“ ein, die
sich zunehmend mit dezidiert heidnischen Sachverhalten füllte. Schon in der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts änderte sich die Lage. Die neue Elite
hatte mit der überlieferten Antike, wie sie den Humanisten am Herzen lag,
wenig im Sinn. Viel wichtiger war es ihnen, sich über Fragen des Handels,
politische Entwicklungen und die neusten Ergebnisse der
naturwissenschaftlichen Forschung zu informieren: So wurde die Frage
diskutiert, warum Venezianer langsamer sprächen als andere Italiener (die
hohe Luftfeuchtigkeit lähme die Zunge) oder warum Frauen mehr Probleme mit
der Schwangerschaft hätten als andere Säugetiere (vor allem Stadtfrauen
bewegten sich zu wenig). Diese Themen strapazierten das überlieferte
Ordnungssystem des relevanten Wissens erheblich. Mit jeder neuen
Erkenntnis, mit jedem neuen Kompendium wurde das System fragiler, die
Rubrik „Sonstiges“ größer.
Am Ende des 16. Jahrhunderts kapitulierten die Herausgeber von
Nachschlagewerken und griffen zum System „Chaos“, dem Alphabet. Von nun an
waren alle Ordnungen der Dinge, alle „Bäume des Wissens“ Makulatur. Das
Wissen wurde alphabetisch sortiert, die Reihenfolge der Einträge folgte
nicht dem inneren Zusammenhang, sondern dem Zufallsgenerator „Alphabet“ –
der zudem bei jeder Übersetzung des Werks die Stichworte in eine neue
Reihenfolge brachte. Im Gegensatz zu den früheren, systematisch geordneten
Enzyklopädien war es für die Leser nicht mehr nachvollziehbar, welchen
Platz in der jeweiligen Wissensordnung ein Stichwort einnahm. Um sich über
„Brechmittel“, „Donnerkeile“ oder „Folter“ zu informieren, war es nicht
zwingend zu wissen, ob es sich nach Ansicht der Herausgeber der
„Encyclopédie“ um eine Frage der „allgemeinen oder der speziellen Moral“,
um „angewandte Naturgeschichte“ oder um „antike Geschichte“ handelte.
Selbst Diderot bemerkte: „Die Enzyklopädie war eine Grube, in welche diese
elenden Lumpensammler [seine Mitarbeiter, d.A.] alles durcheinander
hineinwarfen – Unverdautes, Gutes, Schlechtes, Abscheuliches, Wahres,
Falsches, Ungewisses.“
Und was machen die Herausgeber bei Eichborn aus diesem Sammelsurium für die
heutigen Leser? Ein Buch zum Schmökern, eine Art „Best of Enzyklopädie“,
das seine Herausgeber heute noch für lesenswert halten. Tatsächlich mutet
der Eintrag von Enzyklopädie-Autor Jaucourt über „Jungfräulichkeit“
erstaunlich modern an. Auch der Artikel „Fanatismus“ hat seine lange
Lagerzeit gut überstanden. Und die Überlegungen zur „Laus“ lassen in der
Fantasie des Lesers den faszinierten Naturwissenschaftler des 18.
Jahrhunderts mit seinem Mikroskop erscheinen. So ist der Erkenntnisgewinn
je nach Stichwort mal größer, mal kleiner. Außerdem enthält der Band 25
neue Einträge. Von „Ach, Adam“ bis „Zitat“ werden von klugen Autoren
Gedanken ausgebreitet, die an Gelehrsamkeit und Heterogenität den Einträgen
der Encyclopédie in nichts nachstehen. Jutta Limbachs Artikel „Naturrecht“
etwa zeichnet klar und anschaulich nach, wie wenig das Ideal der
naturgegebenen Gleichheit der Menschen mit der Wirklichkeit zu tun hat,
während man sich bei Luigi Malerbas Überlegungen über den Heiligen Stuhl
fragt, ob das jetzt nun wirklich zum „Kreis des notwendigen Wissens“
gehört. Für die wunderschönen Illustrationen aus den 16 Tafelbänden der
Enzyklopädie gibt es nur einen schwachen Ersatz: Sprachminiaturen, die die
Einträge kommentieren und illustrieren, von Michel de Montaigne bis Uwe
Johnson, von den Gebrüdern Grimm bis Botho Strauss.
„Eine Enzyklopädie duldet keine Auslassung“, hatte Diderot bemerkt. Das
hervorstechendste Merkmal von Eichborns „Welt der Enzyklopädie“ hingegen
ist die Auslassung. Der dicke rote Band enthält eine Auswahl aus alten und
neuen Texten, deren Zusammenhang möglicherweise in einem „Baum des Wissens“
begründet ist. Doch versteht man nicht, welche Kriterien der Auswahl
zugrunde lagen, was uns die Herausgeber mit ihrer Auswahl eigentlich
mitteilen wollen. Und man weiß nicht, was fehlt. Welches Stichwort etwa
zwischen „Sauerkraut“ und „Schamanen“ stand, das heute nicht mehr
wissenswert sein soll. Da hilft nur eins: der Blick ins Original. Es ist
als Nachdruck in jeder Universitätsbibliothek zu finden.
Anette Selg/Rainer Wieland (Hg.): „Die Welt der Encyclopédie“, Übers. v.
Holger Fock u. a., 480 Seiten, Eichborn, Frankfurt a. M. 2001, 66 € (128
DM)
18 Dec 2001
## AUTOREN
DIR SABINE VOGEL
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