URI: 
       # taz.de -- Alles, was kaputtgeht
       
       > Wandern, baden, schweigen und Schultern massieren. Kelly Reichardts
       > Spielfilm „Old Joy“ folgt zwei alten Freunden um die vierzig in die
       > Wälder Oregons. Der eine hört nicht auf zu vagabundieren, der andere
       > richtet sich ein in der bürgerlichen Existenz
       
       VON BARBARA SCHWEIZERHOF
       
       Wer die 30 und erst recht die 40 überschritten hat, wird diese Erfahrung
       kennen: Ein alter Freund ruft an, man hat sich lange nicht gesehen, man
       verabredet sich, will an alte Zeiten anknüpfen – und dann, ohne dass sich
       etwas Dramatisches ereignete, tritt das Gegenteil ein. Eigentlich war alles
       wie früher, vertraute Themen, vertraute Gesichter, aber beim Abschied steht
       plötzlich ein unbestimmtes Gefühl der Endgültigkeit im Raum, mal von
       Melancholie, mal von Erleichterung begleitet.
       
       Stimmungsvoller Realitätssinn machte den amerikanischen Independentfilm
       einst groß – bevor die Weinstein-Brüder mit Miramax das „Indielabel“ für
       ihre 30-Millionen-Dollar-Produktionen kommerzialisierten. Solchen
       Realitätssinn zeigt auch Kelly Reichardt in ihrer 30.000-Dollar-Produktion
       „Old Joy“, die von zwei Freunden in Oregon handelt, die noch einmal einen
       gemeinsamen Ausflug ins Grüne unternehmen. Vordergründig ist es eine völlig
       undramatische Geschichte, eine, die man mit Schulterzucken übergehen
       könnte. Aber Reichardt schildert sie so präzise und reich an
       aussagekräftigen Details, dass daraus ein Zeitbild wird, eine
       Momentaufnahme, in der weit mehr gesellschaftliche Relevanz steckt als im
       Großteil hochdramatischer Liebes- oder Actionspektakel.
       
       Zu Beginn also ruft Kurt, gespielt vom Indierocker Will Oldham, seinen
       alten Freund Mark (Daniel London) an. Schon das Telefongespräch, die
       freundlich-kumpelhafte und gleichzeitig umständliche Art, mit der er Mark
       vorschlägt, einen Wochenendtrip zu unternehmen, weist Kurt als Späthippie
       aus. Man wird ihn im Lauf des Films als jemanden kennenlernen, der bislang
       glaubte, mit seinem Freidenker- und Vagabundenleben den Idealen der eigenen
       Jugend treu geblieben zu sein, nun aber ist er nur noch einen Schritt von
       der Obdachlosigkeit entfernt – was er seinem Freund Mark aber tunlichst
       verschweigt.
       
       Denn dieser Mark, von Daniel London mit einem fast durchgängig wie
       leergefegten Gesicht dargestellt, ist im Gegensatz zu Kurt in dem
       angekommen, was man in Europa das bürgerliche Leben nennt: Er hat eine
       feste Stelle, ein Häuschen und eine hochschwangere Frau, die Kurts Anruf
       mit jenem Quäntchen an kontrollwütigem Missmut zur Kenntnis nimmt, das
       charakteristisch ist für funktionierende Beziehungen. Für Mark wird der
       Ausflug folglich zur Gratwanderung; einerseits spiegelt sich in seinem
       leeren Gesicht die sentimentale Bereitschaft, sich noch einmal auf den
       alten Freund und seine wirren Erzählungen von bewusstseinserweiternden
       Ausflügen nach Big Sur einzulassen. Andererseits nutzt er die Gelegenheit
       für spezielle Loyalitätsbeweise gegenüber seiner Frau, die ihn mehrfach auf
       dem Handy anruft. Jedes Mal wendet er sich beim Sprechen ab von Kurt, um in
       den Hörer auch Dinge zu sagen wie: „Du weißt, wie er ist!“
       
       Reichardts Film bildet ein dicht geknüpftes Geflecht aus solch
       bezeichnenden Details. Nun ist das Aufeinandertreffen alter Freunde in Form
       einer Begegnung von Späthippie und Neobourgeois keine neue Geschichte,
       genauso wenig wie das Genre des
       Männer-in-den-besten-Jahren-auf-Ausflug-Films eine Innovation darstellt.
       Hollywood verfügt längst über eine Bandbreite an Klischees und narrativen
       Fertigteilen, um von solchen Wiederbegegnungen und den daraus erwachsenden
       Erkenntnissen und Enttäuschungen zu erzählen. Kelly Reichardt aber widmet
       sich in ihrem Film ganz der Kunst, die Geschichte darunter zu entdecken,
       jenes Geschehen, das sich in Untertönen und Redepausen abspielt, jenes
       Ungreifbare, in dem die Entfremdung alter Freunde sich mehr manifestiert
       als in unterschiedlichem sozialen Status und gegensätzlichen politischen
       Meinungen.
       
       Kurts Vorschlag, gemeinsam mit Mark zu einer heißen Quelle irgendwo in
       Oregons bergigen Wäldern zu wandern, erweist sich in dieser Hinsicht als
       dramaturgischer Glücksgriff: Der Fahrtweg in die Wälder und die Wanderung
       zur Quelle gibt beiden Figuren etwas zu tun, hält sie in Bewegung, ohne
       dass sie die ganze Zeit reden müssen. Gerade im beiläufigen Nebeneinander
       ihrer Aktionen zeigt sich der Konflikt, den Kelly und ihr Autor Jonathan
       Raymond eher gegen das gängige Klischee anlegen: Kurt, der
       „Immer-noch-Kiffer“, der einerseits als derjenige erscheint, der den Weg
       ins Erwachsenenleben nicht gefunden hat, der mit seinen Reden über die Welt
       als Träne wie nicht angekommen in der Gegenwart wirkt, erweist sich als der
       Lebendigere der beiden. Sicher ist er auch der Unglücklichere, aber
       andererseits kann er das direkt aussprechen: „Du fehlst mir. Ich vermisse
       unsere Freundschaft.“ Mark lässt diesen Satz, zu später Stunde am
       Lagerfeuer gesprochen, nachdem sie sich tagsüber bei der Anfahrt
       hoffnungslos verfahren haben und nun im Nirgendwo campieren, einfach an
       sich vorbeiziehen. Nach außen mag er sein Leben weit besser im Griff haben
       als Kurt, der Film entlarvt jedoch die linke Rechtschaffenheit, in die sich
       Mark einlullt, als Blase: das richtige Radio hören, die richtige Ehefrau
       haben, zum richtigen Zeitpunkt Vater werden – und nichts mehr richtig an
       sich ranlassen.
       
       Wie überhaupt „Old Joy“ ein wunderbares Beispiel dafür ist, wie sich im
       Privaten das Politische spiegelt. Angesiedelt in Oregon, einer der
       Hochburgen amerikanischer Alternativkultur, gibt der im Jahr 2005
       entstandene und erst jetzt in Deutschland zu sehende Film ein sorgfältiges
       Stimmungsbild nach Bushs Wiederwahl: das Gefühl einer endgültigen
       Niederlage und das Zurückgeworfensein ins Einzelkämpfertum.
       
       Endlich angekommen bei der heißen Quelle, um die ein wohlmeinender Staat
       ein Badehaus zur freien Benutzung gebaut hat, legen Kurt und Mark sich in
       die bereitstehenden Badewannen, genießen das Wasser, trinken Bier,
       schweigen. Irgendwann steht Kurt auf und beginnt Marks Schultern zu
       massieren. Die Kamera blendet ab. In einem Film, der auf seine stille Art
       vielerlei Suggestionen Platz bietet, bleibt es als irritierender Moment in
       Erinnerung. Man kann spekulieren: Ist es nur eine Freundschaftsgeste oder
       war da mal was zwischen ihnen? Die filmische Ausblendung entspricht genau
       dem, was die Figuren tun: Sie verschließen die Augen vor dem, was zwischen
       ihnen kaputtgeht, sei es die Freundschaft oder gleich ein politischer
       Zusammenhang, eine Möglichkeit, etwas gemeinsam zu machen oder gar eine des
       Engagements.
       
       „Old Joy“. Regie: Kelly Reichardt. Mit Will Oldham, Daniel London u. a. USA
       2005, 76 Min.
       
       23 Oct 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR BARBARA SCHWEIZERHOF
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA